Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
und ließ sich gegenüber von Tessa auf der Bank nieder. Jem saß neben ihr, den Spazierstock an die Wand gelehnt.
Sofort musste Tessa an die Ausgabe von Vathek denken und an das darin enthaltene Gedicht. Sie hatte das Buch absichtlich im Institut zurückgelassen, um jeglicher Versuchung aus dem Weg zu gehen - so wie jemand, der sich gerade einer Abmagerungskur unterzieht, eine Schachtel Pralinen aus seinem Gesichtsfeld verbannen würde. »Nein«, erklärte sie ruhig. »In letzter Zeit ist mir nichts Interessantes untergekommen.«
Will presste die Kiefer aufeinander, schwieg jedoch.
»Der Beginn einer Reise hat immer etwas Aufregendes an sich, findest du nicht auch?«, fuhr Tessa fort und drückte die Nase an die Fensterscheibe - durch die sie allerdings kaum mehr als Rauch, Ruß und graue Regenschwaden erkennen konnte. London war nur schemenhaft im Nebel auszumachen.
»Nein«, erwiderte Will, lehnte sich zurück und zog sich den Hut bis über die Augen.
Tessa schaute unverwandt aus dem Fenster, während sie die graue Silhouette der Stadt hinter sich ließen und damit auch den Regen. Schon bald ratterten sie durch grüne Felder, auf denen weiße Schafe standen. Am Horizont tauchte hin und wieder eine Kirchturmspitze auf. Das Stahlgrau des Himmels hatte sich in ein verwaschenes Blau verwandelt, nur durchbrochen von kleinen dunklen Dampfwolken, die über ihre Köpfe hinwegjagten. Fasziniert beobachtete Tessa die vorbeifliegende Landschaft.
»Warst du noch nie auf dem Land?«, fragte Jem, wobei aufrichtiges Interesse in seiner Frage mitschwang.
Tessa schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich New York jemals verlassen hätte, abgesehen von einem Ausflug nach Coney Island, aber das kann man nicht ernsthaft als ländliche Umgebung bezeichnen. Und auf meinem Weg von Southampton nach London muss ich natürlich den einen oder anderen Landstrich durchquert haben, aber damals war es schon dämmerig und die Dunklen Schwestern bestanden darauf, die Vorhänge der Kutsche geschlossen zu halten.« Nachdenklich nahm Tessa den tropfnassen Hut von ihrem Kopf und legte ihn auf einen freien Sitzplatz, damit er trocknen konnte. »Aber ich habe den Eindruck, als hätte ich die Landschaft schon vorher einmal gesehen. In Büchern. So stelle ich mir beispielsweise vor, jeden Moment würde ›Thornfield Hall‹ aus Charlotte Brontës Roman Jane Eyre zwischen den Bäumen auftauchen oder der Gutshof ›Wuthering Heights‹ auf einer windumtosten Anhöhe, du weißt schon, aus Emily Brontës Schauerroman Sturmhöhe ...«
»›Wuthering Heights‹ liegt in Yorkshire«, ließ Will sich unter seinem Hut vernehmen, »und wir sind noch Stunden davon entfernt. Um genau zu sein, haben wir noch nicht einmal Grantham passiert. Außerdem gibt es kaum etwas Interessantes über Yorkshire zu berichten: Nur Hügel und Täler, keine richtigen Berge, wie wir sie in Wales haben.«
»Vermisst du Wales?«, hakte Tessa nach. Sie war sich nicht ganz sicher, warum sie ihn fragte; schließlich wusste sie doch, wie gereizt Will auf Erkundigungen nach seiner Vergangenheit reagierte. Aber sie konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen.
Will zuckte die Achseln. »Was gibt es da schon zu vermissen? Schafe und Gesang«, erwiderte er. »Und diese lächerliche Sprache. Fe hoffwn ifod mor feddw, fyddai ddim yn cofio fy enw. «
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet: ›Ich wünsche, mich derartig zu betrinken, dass ich mich nicht einmal mehr an meinen eigenen Namen erinnern kann.‹ Ziemlich nützlich, diese Formulierung.«
»Das klingt nicht sehr patriotisch«, bemerkte Tessa. »Hast du nicht gerade noch in Erinnerungen über eure Berge geschwelgt?«
»Patriotisch?« Will lächelte spöttisch. »Ich werd dir sagen, was patriotisch ist«, erklärte er. »Zu Ehren meines Geburtsortes trage ich den walisischen Drachen als Tätowierung auf meinem ...«
»Du bist heute wirklich ausnehmend guter Laune, nicht wahr, William?«, mischte Jem sich ein, allerdings ohne Schärfe im Ton. Trotzdem wusste Tessa, dass es etwas zu bedeuten hatte, wenn sie sich mit ihrem vollen Namen ansprachen statt nur mit ihrem vertrauten Spitznamen. »Vergiss nicht: Starkweather kann Charlotte nicht ausstehen. Falls du also in dieser Stimmung dort ankommst ...«
»Ich verspreche, ich werde ihn nach allen Regeln der Kunst bezirzen«, verkündete Will, setzte sich aufrecht und richtete seinen zerdrückten Hut. »Ich werde ihn derartig mit meinem Charme bezaubern, dass er
Weitere Kostenlose Bücher