Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
verloren.
Über den inzwischen fast schwarzen Himmel zogen silberhelle Wolken, die vor den Sternen beinahe durchscheinend wirkten. Hinter sich hörte Tessa die vertrauten Stimmen von Jem und Will, die sich gedämpft unterhielten, und direkt vor ihr befand sich das weit geöffnete Kirchenportal, durch das sie flackernde Kerzen erkennen konnte. Plötzlich fühlte sie sich fast körperlos, wie ihr eigener Geist, der in diesem alten Gemäuer umging, unendlich weit entfernt von ihrem früheren Leben in New York. Tessa erschauderte, nicht nur aufgrund der Kälte. Dann spürte sie, wie eine Hand ihren Arm streifte und ein warmer Atem ihre Haare bewegte. Auch ohne sich umzudrehen, wusste sie instinktiv, wer sich ihr genähert hatte.
»Bist du bereit, meine Anverlobte?«, murmelte Jem ihr ins Ohr.
Tessa konnte fühlen, wie er leise in sich hineinlachte und wie sich sein Lachen durch das leichte Vibrieren seines Körpers auf sie übertrug. Fast musste sie lächeln.
»Dann wollen wir uns mal in die Höhle des Löwen wagen«, fügte er hinzu.
Beherzt hakte Tessa sich bei ihm unter und Seite an Seite stiegen sie die Stufen zum Portal hinauf. Am oberen Ende der Treppe blickte Tessa sich kurz um und sah, dass Will zu ihnen hinaufschaute, äußerlich völlig ungerührt, als Gottshall ihm auf die Schulter tippte und ihm irgendetwas zuraunte. Plötzlich trafen sich ihre Blicke, aber Tessa wandte hastig die Augen ab - ein Blickkontakt mit Will war in den besten Momenten verwirrend, aber unter diesen Umständen fast schwindelerregend.
Im Vergleich zum Londoner Institut erschien ihr das Innere der Yorker Nephilim-Niederlassung klein und düster. Altersdunkle Kirchenbänke erstreckten sich entlang der Wände, an denen Elbenlichtkerzen in Halterungen aus rußgeschwärztem Eisen flackerten. Am Eingang zum Kirchenschiff, direkt vor einem stufenartigen Ständer mit brennenden Kerzen, stand ein alter Mann in schwarzer Schattenjägerkleidung. Ein dichter eisgrauer Bart und graue Haare umkränzten sein Gesicht, in dem das Alter seine Spuren hinterlassen hatte, während seine grauschwarzen Augen halb verborgen unter buschigen Brauen hervorschauten. Tessa wusste, dass er fast neunzig war, aber sein Rücken wirkte noch immer kerzengerade und sein Brustkorb war so breit wie ein mächtiger Baumstamm.
»Der junge Herondale, stimmt’s?«, blaffte er Will an, als dieser vortrat, um sich vorzustellen. »Halb Irdischer, halb Waliser und wie ich höre, von beiden Seiten nur die übelsten Charaktereigenschaften geerbt.«
Will lächelte höflich. »Diolch.«
Starkweather schnaubte erbost. »Verdammte Bastardsprache«, knurrte er und wandte sich dann Jem zu. »James Carstairs. Noch so ein Institutsbengel«, kläffte er. »Ich hätt nicht übel Lust, euch alle zum Teufel zu schicken. Diese emporgekommene Göre, diese Charlotte Fairchild, hat doch tatsächlich die Unverfrorenheit besessen, euch mir einfach aufzudrängen, ohne auch nur zu fragen.« Starkweather sprach mit einem deutlichen Yorkshire-Akzent, der jedoch nicht ganz so ausgeprägt war wie bei seinem Diener. »Kein einziges Mitglied dieser ganzen verdammten Familie hat auch nur einen Funken Anstand im Leib. Ich hab auf ihren Vater verzichten können und ich kann jetzt auch ...« Seine blitzenden Augen wanderten zu Tessa und er hielt abrupt inne, mit offenem Mund, als hätte ihm jemand mitten in seiner Tirade eine Ohrfeige verpasst.
Tessa warf Jem einen verstohlenen Blick zu - Starkweathers plötzliches Schweigen schien ihn genauso zu verwirren wie sie selbst.
Doch in dem Moment sprang Will in die Bresche. »Darf ich vorstellen: Tessa Gray, Sir«, erklärte er. »Sie ist eine Irdische, aber die Verlobte von unserem Carstairs hier und eine Aszendierende.«
»Eine Irdische, sagst du?«, hakte Starkweather mit großen Augen nach.
»Eine Aszendierende«, säuselte Will mit besänftigender, seidenweicher Stimme. »Sie ist eine treue Verbündete des Londoner Instituts und wir hoffen, sie bald in unsere Reihen aufnehmen zu können.«
»Eine Irdische«, wiederholte der alte Mann und hüstelte verlegen. »Nun ja, die Zeiten haben sich ... ja, ich vermute, unter diesen Umständen ...« Seine Augen wanderten erneut über Tessas Züge, ehe er sich Gottshall zuwandte, der unter dem ganzen Gepäck eine gequälte Miene zog. »Cedric und Andrew sollen dir helfen, die Koffer unserer Gäste auf ihre Zimmer zu bringen«, befahl er seinem Diener. »Und sag Ellen, sie soll Cook auftragen, heute Abend drei
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