Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Antwort kannte und sich davor fürchtete, sie aus Wills Mund zu hören.
»Jem stirbt ohnehin bald«, erklärte Will mit erstickter Stimme. »Jem ist der einzige Mensch, den ich mir selbst gestattet habe. Denn ich sage mir immer wieder: Wenn er stirbt, ist das nicht meine Schuld. Er stirbt ohnehin einen schleichenden, qualvollen Tod. Dagegen war Ellas Hinscheiden wenigstens schnell. Vielleicht kann ich ja auf diese Weise dazu beitragen, dass er nicht allzu lange leiden muss.« Gepeinigt schaute Will auf und seine Augen begegneten Magnus’ vorwurfsvollem Blick. »Niemand kann ohne jede Hoffnung leben«, wisperte er. »Jem ist alles, was ich habe.«
»Du hättest es ihm sagen müssen«, tadelte Magnus. »Ich bin mir sicher, er hätte dich trotzdem zu seinem Parabatai erwählt, trotz des Risikos.«
»Diese Last kann ich Jem nicht aufbürden! Er würde es zwar für sich behalten, wenn ich ihn darum bäte, aber allein das Wissen um den Fluch würde ihn sehr schmerzen - und der Kummer, den ich anderen zufügen muss, würde ihn noch härter treffen. Wenn ich jedoch Charlotte und Henry und den anderen gestehe, dass mein Verhalten nur vorgetäuscht ist ... dass jedes grausame Wort, das ich ihnen gegenüber geäußert habe, eine glatte Lüge war ... dass ich nachts durch die Straßen wandere, nur um den Eindruck zu erwecken, ich wäre von Schenke zu Schenke gezogen und von Freudenhaus zu Freudenhaus, während ich in Wahrheit nicht das geringste Bedürfnis danach verspüre ... wenn ich ihnen das anvertrauen würde, wäre ich nicht länger in der Lage, sie von mir stoßen.«
»Und folglich hast du keiner Menschenseele je von deinem Fluch erzählt? Niemandem außer mir? Seit deinem zwölften Lebensjahr?«
»Das konnte ich doch nicht«, sagte Will. »Wie hätte ich sichergehen wollen, dass man nicht doch eine gewisse Zuneigung zu mir entwickeln würde, sobald einmal die Wahrheit ans Licht gekommen wäre? Eine Geschichte wie diese könnte Mitleid erwecken, aus Mitleid könnte Liebe erwachsen und dann ...«
Nachdenklich zog Magnus eine Augenbraue hoch. »Machst du dir eigentlich keine Sorgen um mich?«
»Dass du mich möglicherweise lieben könntest?« Will klang aufrichtig verwundert. »Nein, denn du hasst alle Nephilim, oder etwa nicht? Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass Hexenwesen ihre eigenen Methoden haben, um sich vor unliebsamen Gefühlen zu schützen. Aber was Charlotte und Henry und die anderen betrifft ... wenn sie wüssten, dass die Person, die zu sein ich vorgebe, nur Schein ist ... wenn sie den wahren Grund meines Verhaltens erführen ... dann könnte es passieren, dass ich ihnen nicht länger gleichgültig bin.«
»Und dann müssten sie vergehen«, schloss Magnus.
Langsam hob Charlotte das Gesicht aus den Händen. »Und ihr habt wirklich keine Ahnung, wo er ist?«, fragte sie nun schon zum dritten Mal. »Will ist einfach ... verschwunden?«
»Charlotte.« Jems Stimme hatte einen beruhigenden Unterton.
Sie befanden sich im Salon, dessen Wände mit Blumen- und Rankentapeten bekleidet waren. Sophie hockte vor dem offenen Kamin und stocherte mit dem Schürhaken im Feuer, um den Kohlenbrocken höhere Flammen zu entlocken. Henry saß am Schreibtisch und spielte mit einer Reihe kupferner Instrumente herum. Jessamine hatte die Chaiselongue mit Beschlag belegt und Charlotte thronte in einem Sessel am Kamin. Dagegen saßen Tessa und Jem ein wenig steif nebeneinander auf dem Sofa, wodurch Tessa sich auf merkwürdige Weise wie ein Gast fühlte. Ihr Magen war bis zum Rand mit Sandwiches gefüllt, die Bridget auf einem Tablett hereingebracht hatte, und dank einer Tasse heißen Tees taute sie langsam auch von innen wieder auf.
»Es ist doch nichts Ungewöhnliches«, fügte Jem hinzu. »Wann haben wir denn je gewusst, wo Will die Nächte verbringt?«
»Aber dieses Mal handelt es sich um eine völlig andere Situation. Will hat seine Familie wiedergesehen ... oder zumindest seine Schwester. Ach, der arme Junge.« Die Sorge ließ Charlottes Stimme leicht zittern. »Ich hatte gedacht, dass er sie vielleicht endlich vergessen könnte ...«
»Niemand vergisst jemals seine Familie«, warf Jessamine in scharfem Ton ein. Sie saß auf der Chaiselongue, eine Staffelei vor sich. Nur wenige Tage zuvor war sie zu dem Beschluss gekommen, dass sie ihre jungferlichen Pflichten sträflich vernachlässigt habe, und nun übte sie sich eifrig in den diversen Künsten: Aquarellmalerei, Scherenschnitt sowie das Sammeln und Pressen von
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