Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
einen Hauch von Verantwortungsgefühl besitzt.«
Entschlossen hob Tessa das Kinn. Trotz der zwiespältigen Gefühle, die sie für Will empfand, wollte sie nicht dulden, dass ein Außenstehender - jemand außerhalb der kleinen Institutsgemeinschaft - es wagte, ihn zu kritisieren. »Das ist durchaus nichts Ungewöhnliches und gewiss kein Anlass zur Sorge«, beschied sie Gabriel von oben herab. »Will ist ein ... ein freier Geist. Er wird bestimmt bald zurückkehren.«
»Das hoffe ich nicht«, erwiderte Gabriel. »Ich hoffe, er ist tot.«
Tessas Hand schloss sich fester um das Heft des Dolches. »Das ist Ihr Ernst, nicht wahr? Was hat Will Ihrer Schwester denn angetan, dass Sie ihn derart hassen?«
»Warum fragen Sie ihn nicht selbst?«
»Gabriel!« Gideons Stimme hallte scharf durch den Fechtsaal. »Könnten wir nun bitte mit dem Unterricht fortfahren, statt hier länger wertvolle Zeit zu verschwenden?«
Wütend funkelte Gabriel seinen älteren Bruder an, der ruhig neben Sophie stand. Doch dann konzentrierte er sich gehorsam auf den Unterricht und verlor kein Wort mehr über Will.
Das Training beschäftigte sich an diesem Tag mit dem Halten einer Waffe und der richtigen Balance der Klinge. Die Spitze durfte beim schwungvollen Ausführen des Hiebs nicht nach unten sinken und natürlich durfte die Waffe auch nicht aus der Hand gleiten. Das Ganze entpuppte sich als schwieriger, als es aussah, und Gabriel war dieses Mal nicht sehr geduldig.
Tessa beneidete Sophie, die von Gideon unterrichtet wurde, einem stets bedachtsamen, methodisch vorgehenden Lehrer - auch wenn er jedes Mal ins Spanische verfiel, sobald Sophie etwas falsch machte. »Ay Dios mio«, murmelte er in der Regel und zog die Waffe, die mit der Spitze im Fußboden steckte, wieder aus den Holzdielen. »Wollen wir es noch einmal versuchen?«
»Gerade stehen!«, forderte Gabriel Tessa in der Zwischenzeit ungeduldig auf. »Nein, gerade. So wie ich!«, knurrte er und demonstrierte die gewünschte Haltung.
Am liebsten hätte Tessa ihn angefaucht: Im Gegensatz zu ihm habe sie schließlich kein lebenslanges Training in korrekter Haltung und richtigen Bewegungsabläufen genossen; außerdem waren alle Nephilim geborene Akrobaten, was auf sie aber nun leider nicht zutraf. »Pah!«, erwiderte sie aufgebracht. »Ich würde gern einmal sehen, wie Sie in Korsett, tonnenschweren Unterröcken und Kleidern mit meterlanger Schleppe versuchen, gerade zu sitzen und zu stehen!«
»Das würde ich auch gern!«, rief Gideon von der anderen Seite des Fechtsaals.
»Ach, beim Erzengel!«, schnaubte Gabriel, packte Tessa an den Schultern und wirbelte sie herum, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Dann legte er die Arme um sie, drückte ihre Wirbelsäule gerade und drehte den Dolch in ihrer Hand in die richtige Position.
Tessa konnte seinen Atem im Nacken spüren. Das Gefühl jagte ihr einen unangenehmen Schauer durch den Körper - und ärgerte sie maßlos. Er berührte sie, weil er glaubte, sich diese Freiheit einfach herausnehmen zu können, und weil er annahm, Will damit zu reizen, auch wenn dieser gar nicht anwesend war. »Lassen Sie mich los!«, knurrte Tessa leise.
»Auch das ist Teil des Trainings«, erwiderte Gabriel in gelangweiltem Ton. »Davon abgesehen, schauen Sie sich doch einmal meinen Bruder und Miss Collins an. Sie beschwert sich kein bisschen.«
Tessa warf einen raschen Blick zu Sophie hinüber, die vollkommen in ihre Unterrichtsstunde mit Gideon vertieft zu sein schien. Dieser stand direkt hinter ihr, einen Arm um sie gelegt, und zeigte ihr, wie sie ein spitzes Wurfmesser halten musste. Seine Hand war behutsam um die von Sophie gewölbt und es wirkte, als würde er zu ihrem Nacken sprechen, dort, wo sich eine dunkle Strähne aus dem Haarknoten gelöst hatte und sich einladend kringelte. Als er Tessas Blick bemerkte, errötete er.
Verblüfft riss Tessa die Augen auf. Wer hätte das gedacht: Gideon Lightwood war doch tatsächlich rot angelaufen! Hatte er Sophie etwa bewundert ? Von ihrer Narbe einmal abgesehen, die Tessa ohnehin kaum noch wahrnahm, war das Mädchen in der Tat sehr hübsch. Aber sie war auch eine Irdische und eine Bedienstete und die Lightwoods hatten sich bisher immer als schreckliche Snobs aufgeführt. Plötzlich verspürte Tessa ein beklemmendes Gefühl im Magen: Sophie war von ihrem vorherigen Dienstherrn abscheulich behandelt worden - und das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war irgendein dahergelaufener, hübscher
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