Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
freigab. Eine große geschwungene Treppe mit vergoldetem Geländer und luxuriösen Teppichen musste früher den Mittelpunkt der Halle gebildet haben. Doch von der einstigen Pracht waren nur noch ein paar Stufen übrig, die sich rasch in der Dunkelheit verloren. Der Treppenrest endete direkt über ihren Köpfen, mitten in der Luft. Der Anblick war so surreal wie eines der Gemälde von Magritte, die Jocelyn so liebte. Dieses hier würde den Titel Treppe ins Nichts tragen, dachte Clary.
»Was haben Vampire gegen Treppen?«, fragte sie. Ihre Stimme klang so trocken wie der Staub, der jeden einzelnen Gegenstand bedeckte.
»Nichts«, sagte Jace. »Aber sie sind nicht auf sie angewiesen.«
»Damit zeigen sie, dass dieser Ort ihnen gehört.« Raphaels Augen leuchteten. Er wirkte beinahe begeistert. Jace warf ihm einen Seitenblick zu.
»Hast du jemals einen Vampir gesehen, Raphael?«, fragte er.
Raphael schaute ihn fast verträumt an. »Ich weiß, wie sie aussehen: Sie sind bleicher und dünner als Menschen, aber sehr stark. Sie bewegen sich anmutig wie Katzen und springen mit einer Blitzartigkeit, die Schlangen zu eigen ist. Sie sind schön und schrecklich. Genau wie dieses Hotel.«
»Du findest dieses Gebäude schön?«, fragte Clary überrascht.
»Man kann sehen, dass es mal schön war, vor vielen Jahren. Wie eine alte Frau, die in ihrer Jugend eine Schönheit war, aber jetzt durch das Alter gezeichnet ist. Du musst dir vorstellen, wie diese Treppe früher einmal ausgesehen hat, mit brennenden Gaslampen entlang der Geländer, wie Glühwürmchen in der Dunkelheit, und vielen, vielen Leuten. Nicht so, wie sie jetzt aussieht, so …« Er stockte, suchte nach dem richtigen Wort.
»Verstümmelt?«, meinte Jace trocken.
Raphael wirkte bestürzt, als hätte Jace ihn aus einem Traum gerissen. Er lachte zittrig und drehte sich zur Seite.
»Wo sind sie denn nun?«, wandte Clary sich an Jace. »Die Vampire, meine ich.«
»Vermutlich irgendwo da oben. Sie bevorzugen einen Schlafplatz unter dem Dach, wie Fledermäuse. Und es dauert nicht mehr lange bis Sonnenaufgang.«
Wie Marionetten, deren Köpfe an Fäden befestigt sind, sahen Clary und Raphael gleichzeitig die Treppe hinauf. Doch über ihnen war nichts zu sehen außer der Deckenmalerei, die an manchen Stellen abgeblättert und schwarz war, als hätte sie bei einem Brand Schaden genommen. Links von ihnen führte ein Torbogen tiefer in die Dunkelheit; die Säulen auf beiden Seiten waren mit Blüten- und Blattmotiven verziert. Als Raphael einen Blick über seine Schulter warf, blitzte am unteren Ende seiner Kehle eine weiße Narbe auf und hob sich deutlich von seiner braunen Haut ab. Clary fragte sich, woher er sie wohl hatte.
»Ich denke, wir sollten zum Dienstbotenaufgang zurückkehren«, flüsterte sie. »Ich fühle mich hier wie auf dem Präsentierteller.«
Jace nickte. »Dir ist schon klar, dass du von der Stiege aus nach Simon rufen musst, in der Hoffnung, dass er dich hört?«
Sie fragte sich, ob sich ihre Furcht wohl auf ihrem Gesicht spiegelte. »Ich …«
In dem Moment erklang ein markerschütternder Schrei. Clary wirbelte herum.
Raphael. Er war verschwunden. Keinerlei Abdrücke oder Spuren im Staub deuteten darauf hin, in welche Richtung er gegangen oder verschleppt worden war. Instinktiv streckte sie eine Hand nach Jace aus, doch der hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, rannte in Richtung des gähnenden Torbogens am anderen Ende der Halle. Sie konnte ihn nicht mehr erkennen, sah nur noch das hin und her tanzende Elbenlicht seines Schwerts, dem sie folgte – wie ein Reisender, der sich von trügerischen Irrlichtern durch ein Moor leiten lässt.
Hinter dem Torbogen lag ein riesiger Raum, der früher einmal der Ballsaal gewesen sein musste. Der ursprünglich makellos weiße Marmorboden war derart beschädigt und gesprungen, dass er an ein Meer von Eisschollen erinnerte. Entlang der Wände erstreckten sich geschwungene Balkone, deren Geländer von Rost überzogen waren. Dazwischen hingen riesige Spiegel in Goldrahmen, jeweils gekrönt von einem vergoldeten Amorhaupt. Spinnweben schwebten in der klammen Luft wie altmodische Brautschleier.
Raphael stand mit herabhängenden Armen in der Mitte des Saals. Clary rannte zu ihm, während Jace ihr etwas bedächtiger folgte. »Alles in Ordnung?«, fragte sie atemlos.
Der Junge nickte langsam. »Ich dachte, ich hätte eine Bewegung gesehen. Aber ich hab mich wohl getäuscht.«
»Wir haben beschlossen, zur
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