Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
Clary, hatte er gebrüllt. Kapierst du denn gar nichts?
Sie dachte an Hunderte von Dingen, die er gesagt oder getan hatte, an die Witze, die Eric und die anderen über sie beide gerissen hatten, an die Gespräche, die plötzlich verstummten, wenn sie den Raum betrat. Jace hatte es von Anfang an gewusst. Ich habe über euch gelacht, weil mich Liebesbezeugungen amüsieren, vor allem, wenn die Liebe nicht erwidert wird. Sie hatte sich damals nicht gefragt, was er damit meinte, doch jetzt wusste sie es.
Sie hatte Simon vor wenigen Stunden gesagt, dass sie in ihrem Leben nur drei Menschen geliebt hatte: ihre Mutter, Luke und ihn. Sie fragte sich, ob es wirklich möglich war, innerhalb einer Woche alle Menschen zu verlieren, die man liebte. Sie fragte sich, ob dies zu den Erlebnissen zählte, über die man jemals hinwegkommen konnte. Und dennoch … für einen kurzen Moment mit Jace oben auf dem Dach hatte sie ihre Mutter vergessen. Sie hatte Luke vergessen. Sie hatte Simon vergessen. Und sie war glücklich gewesen. Das war das Schlimmste daran – dass sie glücklich gewesen war.
Vielleicht, dachte sie, vielleicht war der Verlust von Simons Freundschaft ja die Strafe dafür, dass sie so egoistisch gewesen war, einen winzigen Moment lang glücklich zu sein, während ihre Mutter noch immer verschwunden war. Das Ganze war sowieso nicht echt gewesen. Jace mochte zwar fantastisch küssen können, aber er empfand nicht das Geringste für sie. Das hatte er selbst gesagt.
Langsam ließ sie den Skizzenblock sinken. Simon hatte recht gehabt; es war ein gutes Porträt von Jace. Sie hatte die harte Linie seines Mundes gut getroffen, die nicht dazu passenden, verletzlichen Augen. Die Schwingen wirkten so echt, dass sie sich vorstellte, wie weich sie sich anfühlen mussten, wenn sie mit dem Finger darüberstrich. Sie ließ ihre Hand auf das Papier sinken, ihre Gedanken abschweifen …
Und riss ihre Hand ruckartig zurück. Starrte auf das Blatt. Ihre Finger hatten kein trockenes Papier berührt, sondern weiche Federn. Ihr Blick wanderte zu den Runen, die sie gedankenverloren in eine Ecke des Blatts gekritzelt hatte. Sie schimmerten – genau wie die Runen, die Jace mit seiner Stele zeichnete.
Plötzlich begann ihr Herz, schneller zu schlagen, in einem kräftigen, pulsierenden Rhythmus. Wenn eine Rune eine Zeichnung zum Leben erwecken konnte, dann …
Ohne den Blick von der Zeichnung zu wenden, tastete sie nach ihren Stiften. Atemlos schlug sie eine neue, leere Seite auf und zeichnete das Erstbeste, was ihr durch den Kopf ging. Es war der Kaffeebecher, der auf ihrem Nachttisch stand. Dank der Techniken, die sie im Zeichenunterricht gelernt hatte, konnte sie ihn detailliert wiedergeben: den kaffeeverschmierten Rand, den Riss in der Glasur des Henkels. Als sie den Stift nach einer Weile beiseitelegte, hatte sie den Becher so wirklichkeitsgetreu wie möglich gezeichnet. Von einem Instinkt angetrieben, den sie selbst nicht ganz verstand, griff sie nach dem Becher und stellte ihn auf den oberen Rand des Papiers. Und dann begann sie sehr sorgfältig, die Runen neben die Zeichnung zu setzen.
18
D ER K ELCH DER E NGEL
Jace lag auf dem Bett und gab vor zu schlafen, als das Klopfen an der Tür ihm schließlich doch zu viel wurde. Er hievte sich von der Bettdecke und stöhnte auf. Auch wenn er im Gewächshaus so getan hatte, als ginge es ihm glänzend, fühlte er noch immer jeden einzelnen schmerzenden Knochen in seinem Körper.
Schon bevor er die Tür öffnete, wusste er bereits, wer davorstehen würde. Wahrscheinlich hatte Simon es geschafft, sich erneut in eine Ratte verwandeln zu lassen. Aber dieses Mal würde er das verdammt noch mal auch bleiben. Denn er, Jace Wayland, war nicht bereit, auch nur einen Finger für ihn zu rühren.
Clary hielt den Skizzenblock fest an die Brust gedrückt; ein paar Haarsträhnen hatten sich aus ihren leuchtend roten Zöpfen gelöst. Jace lehnte sich gegen den Türrahmen, ignorierte den Adrenalinstoß, der ihm bei ihrem Anblick durch die Adern schoss. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum sie diese Wirkung auf ihn hatte. Isabelle setzte ihre Schönheit gezielt ein wie ihre Peitsche, aber Clary wusste nicht einmal, dass sie schön war. Vielleicht war das die Erklärung.
Er konnte sich nur einen Grund für ihr Kommen vorstellen, obwohl das eigentlich keinen Sinn ergab – nach dem, was er zu ihr gesagt hatte. Worte waren wie Waffen; das hatte ihm sein Vater beigebracht, und er hatte Clary
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