Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
Erkenntnis zu dämmern. »Natürlich – weil sie gar nicht Jocelyn Fray war«, fuhr sie fort. »Sondern Jocelyn Fairchild, seine Frau. Die Frau, die alle für tot gehalten haben. Sie nahm sich den Kelch und floh, richtig?«
Irgendetwas schien in den Augen der Hexe aufzuflackern, doch sie senkte ihre Lider so schnell, dass Clary glaubte, sich das Ganze nur eingebildet zu haben. »Und«, fragte Madame Dorothea, »weißt du, wie du weiter vorgehen willst? Wo immer sie den Kelch auch versteckt hat, er dürfte nicht leicht zu finden sein … falls du ihn überhaupt finden willst. Schließlich könnte Valentin schreckliche Dinge tun, wenn er den Kelch in die Hände bekommt.«
»Ich muss ihn finden«, sagte Clary. »Wir wollen …«
»Wir wissen, wo er ist«, schnitt Jace ihr schnell das Wort ab. »Nun geht es nur noch darum, ihn zurückzuholen.«
Madame Dorotheas Augen weiteten sich. »Und, wo steckt er?«
»Hier«, erwiderte Jace in einem so selbstgefälligen Ton, dass Isabelle und Alec ihre sorgfältige Durchsicht des Bücherregals unterbrachen und zu ihnen hinüberkamen.
»Hier? Willst du damit sagen, dass du ihn bei dir trägst?«
»Nicht ganz, edle Hüterin«, antwortete Jace, der die Situation auf fast schon abstoßende Art zu genießen schien. »Ich will damit sagen, dass Sie ihn haben.«
Madame Dorothea fiel der Mund zu. »Das ist nicht komisch«, sagte sie so spitz, dass Clary sich besorgt fragte, ob hier nicht irgendetwas furchtbar falsch lief. Warum musste Jace immer alles und jeden vor den Kopf stoßen?
»Sie haben ihn tatsächlich«, unterbrach Clary hastig, »aber nicht …«
Madame Dorothea erhob sich aus ihrem Sessel zu ihrer vollen, beeindruckenden Größe und schaute sie finster an. »Du machst einen großen Fehler«, sagte sie eisig. »Sowohl mit der Behauptung, dass ich den Kelch haben könnte, als auch mit der Dreistigkeit, mit der du mich eine Lügnerin nennst.«
Alecs Hand fuhr zu seinem Klingenstab. »Oh Mann«, murmelte er gepresst.
Verwirrt schüttelte Clary den Kopf. »Nein«, erwiderte sie schnell, »ich würde Sie nie eine Lügnerin nennen, ganz bestimmt nicht. Ich will damit nur sagen, dass der Kelch hier ist, aber ohne dass Sie davon wussten .«
Madame Dorothea starrte sie an. Ihre Augen, tief in den Falten ihres Gesichts verborgen, wirkten jetzt wie zwei harte Murmeln. »Das musst du mir erklären«, sagte sie.
»Meine Mutter muss den Kelch hier versteckt haben«, erläuterte Clary. »Und zwar schon vor Jahren. Sie hat es Ihnen nur nie erzählt, weil sie Sie nicht mit hineinziehen wollte.«
»Also gab sie Ihnen den Kelch«, ergänzte Jace, »getarnt in Form eines Geschenks.«
Madame Dorothea schaute ihn verständnislos an.
Erinnert sie sich denn nicht mehr?, dachte Clary verblüfft. »Das Tarotspiel«, sagte sie. »Die Karten, die sie für Sie gemalt hat.«
Der Blick der Hexe wanderte zu dem Kartenstapel, der in Seidenbänder eingeschlagen auf dem Tisch lag. »Die Karten?« Ihre Augen weiteten sich noch mehr, als Clary an den Tisch trat und den Stapel an sich nahm. In ihren Händen fühlten sich die Karten warm an, fast schon rutschig. Und zum ersten Mal spürte sie auch, wie die Kraft der Runen, die auf den Kartenrücken aufgemalt waren, durch ihre Fingerspitzen strömte. Sie fand das Ass der Kelche allein durch die Berührung ihrer Finger und zog es aus dem Stapel heraus. Die übrigen Karten legte sie wieder auf den Tisch.
»Hier ist er«, sagte sie.
Alle im Raum sahen sie an, erwartungsvoll, völlig regungslos. Langsam drehte sie die Karte um und betrachtete die künstlerische Arbeit ihrer Mutter: die schlanke gemalte Hand, deren Finger den goldenen Stiel des Engelskelchs hielten.
»Jace«, sagte Clary, »gib mir deine Stele.«
Er legte sie in ihre Hand, warm und beinahe lebendig. Sie drehte die Karte um und fuhr mit der Stele über die Runen, die auf ihrem Rücken aufgemalt waren – ein Schnörkel hier, eine Linie dort, und plötzlich bedeuteten sie etwas völlig anderes. Als Clary die Karte erneut umdrehte, hatte das Bild sich kaum merklich verändert: Die Finger hatten ihren Griff vom Stiel des Kelchs gelöst und schienen ihr den Kelch förmlich anzubieten, als ob sie sagen wollten: Hier, nimm ihn.
Sie ließ die Stele in ihre Tasche gleiten. Dann schob sie die Hand durch das kleine bemalte Rechteck der Karte, so mühelos, als handelte es sich um ein breites Fenster. Ihre Hand erfasste den Stiel des Kelchs und sie schloss ihre Finger darum. Als sie ihre Hand
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