Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
leise. »Um wie viel wäre er älter als ich? Ein Jahr?«
Luke schwieg.
»Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht«, murmelte sie.
»Nicht«, sagte er unglücklich. »Quäl dich nicht. Du begreifst doch wohl, warum deine Mutter dies alles von dir ferngehalten hat, oder? Was hätte es für einen Nutzen gehabt, dich wissen zu lassen, was du schon vor deiner Geburt
verloren hattest?«
»Dieses Kästchen«, begann Clary, deren Gedanken sich nun überschlugen, »mit den Initialen J. C. darauf. Jonathan Christopher. Deshalb hat sie immer geweint, wenn sie es betrachtet hat. Das war seine Haarlocke – die meines Bruders, nicht meines Vaters.«
»Ja.«
»Und als du sagtest ›Clary ist nicht Jonathan‹, hast du meinen Bruder gemeint. Deshalb war Mom auch immer so überfürsorglich – weil sie bereits ein Kind verloren hatte.« Ehe Luke antworten konnte, öffnete sich die Zellentür mit einem metallischen Klang und Gretel betrat den Raum. Das »Verbandszeug«, unter dem Clary sich eine Hartplastik-Box mit aufgedrucktem rotem Kreuz vorgestellt hatte, erwies sich als ein großes Holztablett mit aufgerollten Bandagen und dampfenden Schüsseln voll undefinierbaren Flüssigkeiten und Kräutern, die ein intensives zitronenartiges Aroma verströmten. Gretel stellte das Tablett neben dem Bett ab und bedeutete Clary, sich aufzusetzen, was dieser mit einiger Mühe auch gelang.
»Braves Mädchen«, meinte die Wolfsfrau, tunkte etwas Mull in eine der Schüsseln und tupfte damit sanft das getrocknete Blut von Clarys Gesicht. »Wie hast du denn das geschafft?«, fragte sie missbilligend, als ob sie annähme, Clary sei sich mit einer Käsereibe durchs Gesicht gefahren. »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Luke, der die Prozedur mit verschränkten Armen beobachtete.
»Hugo hat mich angegriffen.« Clary versuchte, nicht zusammenzuzucken, als sich die blutstillende Flüssigkeit beißend auf ihren Wunden verteilte.
»Hugo?«, meinte Luke verblüfft.
»Hodges Vogel. Zumindest nehme ich an, es ist sein Vogel.
Er könnte natürlich auch zu Valentin gehören.«
»Hugin« , sagte Luke leise. »Hugin und Munin waren Valentins zahme Vögel. Ihre Namen bedeuten ›Gedanke‹ und ›Erinnerung‹.«
»Eigentlich sollten sie ›Angriff‹ und ›Tod‹ heißen«, meinte Clary. »Hugo hätte mir fast die Augen ausgekratzt.« »Dafür hat man ihn abgerichtet.« Luke klopfte mit den Fingerspitzen einer Hand auf seinen anderen Arm. »Hodge muss ihn nach dem Aufstand mitgenommen haben. Aber er war immer noch Valentins Geschöpf.«
»Genau wie Hodge«, sagte Clary und verzog das Gesicht, als Gretel die lange Risswunde an ihrem Arm säuberte, die mit Schmutz und getrocknetem Blut verkrustet war, und an schließend verband.
»Clary …«
»Ich will nicht weiter über die Vergangenheit reden«, unterbrach sie ihn aufgebracht. »Sag mir lieber, was wir nun tun sollen. Jetzt hat Valentin meine Mom, Jace und den Kelch. Und wir haben gar nichts.«
»Das würde ich nicht gerade behaupten«, erwiderte Luke.
»Wir haben ein mächtiges Wolfsrudel. Unser Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wo Valentin steckt.«
Clary schüttelte den Kopf und mehrere Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, die sie mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite strich. Mein Gott, ich bin ja völlig verdreckt, dachte sie. Ich würde alles – na ja, fast alles – für eine Dusche geben.
»Hat Valentin nicht irgendeine Art von Versteck? Ein geheimes Lager?«
»Falls er so etwas besitzt«, sagte Luke, »dann ist es ihm wirklich gelungen, das geheim zu halten.«
Inzwischen war Gretel mit Clarys Verband fertig und sie bewegte vorsichtig ihren Arm. Die grünliche Salbe, die Gretel ihr auf die Wunde geschmiert hatte, unterdrückte den Schmerz, aber der Arm fühlte sich noch immer steif und starr an. »Warte mal«, sagte Clary.
»Diesen Spruch werde ich nie verstehen«, meinte Luke. »Ich hatte nicht vor wegzugehen.«
»Könnte Valentin noch irgendwo in New York sein?« »Möglich wär’s.«
»Als ich ihn im Institut sah, kam er durch ein Portal. Magnus erzählte mir, dass es in New York nur zwei Portale gäbe, eines bei Madame Dorothea und eines bei Renwicks. Aber das bei Madame Dorothea ist zerstört und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich dort verstecken würde, also …« »Bei Renwicks?«, meinte Luke verwirrt. »Renwick ist kein Schattenjäger-Name.«
»Und wenn Renwick gar keine Person
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