Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
Dolch, doch nicht eine einzige Waffe ließ sich aus ihrer Halterung nehmen. Nach einer Weile musste sie ihre Versuche mit blutig eingerissenen Fingernägeln aufgeben. Dieser Raum war beherrscht von einem Zauberbann. Nicht von der vertrauten Kraft der Runen, sondern von einer wilden, seltsamen, düsteren Form von Magie.
Clary taumelte rückwärts aus der Waffenkammer; in diesem Geschoss gab es nichts, was ihr weiterhelfen konnte. Sie humpelte den Korridor entlang – allmählich spürte sie den Schmerz abgrundtiefer Erschöpfung in Armen und Beinen – und stand schließlich wieder im Treppenhaus. Nach oben oder nach unten? Unten war alles dunkel und verlassen gewesen, erinnerte sie sich. Natürlich hätte sie sich mit ihrem Elbenlicht einen Weg suchen können, doch bei dem Gedanken daran, diese schwarzen Tiefen allein zu erkunden, ließ irgendetwas sie zögern. Über ihr strahlten weitere Lichter und einen Moment lang glaubte sie, einen Schatten oder eine Bewegung gesehen zu haben.
Mühsam stieg sie die Stufen hinauf. Ihre Beine brannten, ihre Füße schmerzten, alles tat weh. Zwar waren ihre Verletzungen verbunden worden, doch das bedeutete nicht, dass sie ihr nicht länger zusetzten. Die Spuren von Hugos Krallen brannten auf ihrer Wange und in ihrem Mund verspürte sie einen metallischen, bitteren Geschmack.
Endlich erreichte sie den obersten Treppenabsatz. Das geschwungene Geländer erinnerte an die Bugreling eines Schiffs. Auch in diesem Stockwerk herrschte eine unheimliche Stille; das Schlachtgetümmel drang nicht bis hier hoch. Vor ihr erstreckte sich ein weiterer langer Korridor mit unzähligen Türen, die jedoch nicht alle verschlossen waren. Aus manchen drang zusätzliches Licht auf den Flur. Instinktiv zog es sie zur letzten Tür auf der linken Seite. Als sie davorstand, warf sie vorsichtig einen Blick in den dahinterliegenden Saal.
Im ersten Moment erinnerte sie der Raum an eines der historischen Zimmer im Metropolitan Museum of Art. Es schien fast, als machte sie einen Schritt in die Vergangenheit – die Holzvertäfelung an den Wänden glänzte, als wäre sie gerade erst frisch poliert worden, und der endlos lange Esstisch war mit feinstem Porzellan gedeckt. Ein schimmernder Spiegel mit einem kunstvollen Goldrahmen schmückte die hintere Wand, flankiert von zwei Ölgemälden in wuchtigen Rahmen. Alles glitzerte und funkelte im Licht der Fackeln – die Servierplatten, auf denen sich die Speisen stapelten, die wie Lilien geformten Weinkelche, das blendend weiße Tafelleinen. Am Ende des Saals befanden sich zwei breite Fenster, die von schweren Samtvorhängen umrahmt wurden. Vor einem der Fenster stand Jace – so reglos, dass Clary ihn erst für eine Statue hielt, bis sie erkannte, dass sich das Licht in seinen hellen Haaren brach. Mit der linken Hand hielt er einen der Vorhänge beiseite und in der dunklen Fläche des Fensters sah Clary die Reflexion von Dutzenden Kerzen, die im Raum verteilt waren – Lichtspiegelungen, die wie Glühwürmchen im Glas der Scheibe gefangen schienen.
»Jace.« Sie hörte ihre eigene Stimme wie aus großer Ferne; Erstaunen und Dankbarkeit schwangen darin mit und eine Sehnsucht, die so stark war, dass es wehtat. Er ließ den Vorhang sinken und drehte sich um, ein verblüffter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Jace!«, rief sie erneut und rannte auf ihn zu. Er fing sie auf, als sie sich ihm in die Arme warf, und drückte sie fest an sich.
»Clary.« Seine Stimme klang vollkommen verändert, war fast nicht wiederzuerkennen. »Clary, was tust du denn hier?«
»Ich bin deinetwegen hier«, erwiderte sie, halb erstickt und gegen sein Hemd gedrückt.
»Das hättest du nicht tun sollen.« Plötzlich löste er sich von ihr und hielt sie auf Armeslänge von sich, um sie betrachten zu können. »Großer Gott«, murmelte er und berührte ihr Gesicht. »Du Närrin. Was für eine verrückte Idee.« Seine Stimme klang nun zornig, doch sein Blick strich zärtlich über ihre Züge und seine Finger schoben behutsam eine ihrer roten Locken nach hinten. Nie zuvor hatte sie ihn auf diese Weise gesehen: Er strahlte eine ungeheure Zerbrechlichkeit aus, als hätte ihn jemand zutiefst verletzt. »Warum denkst du eigentlich nie nach?«, flüsterte er.
»Aber ich habe doch nachgedacht«, entgegnete sie. »Ich habe an dich gedacht.«
Einen kurzen Moment lang schloss er die Augen. »Wenn dir irgendwas zugestoßen wäre …« Seine Finger fuhren zärtlich über ihre Arme, bis
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