Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
vertrautes Gesicht in der Menge. Eine schmächtige dunkle Gestalt, die zielgerichtet auf sie zukam und sich mit erstaunlicher Leichtigkeit durch das Gewimmel schlängelte - fast als würde sie sich durch die Menge bewegen, wie Rauch durch die Latten eines Zauns.
Und genauso war es auch, erkannte Clary schlagartig: Vor ihr stand Raphael, in der gleichen Kleidung, die er auch bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte - weißes Hemd über schwarzer Hose. Clary hatte ganz vergessen, wie klein er war. Er wirkte kaum älter als vierzehn, als er die Stufen hinaufkam, sein schmales Gesicht ruhig und engelsgleich, wie ein Chorknabe, der zum Altar emporsteigt.
»Raphael«, stieß Luke mit einer Mischung aus Erstaunen und Erleichterung hervor. »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich zu uns gesellen würdest. Haben die Nachtkinder es sich andersüberlegt und werden nun doch mit uns gemeinsam gegen Valentin kämpfen? Der Sitz in der Kongregation steht euch immer noch offen - du brauchst nur einzuschlagen.« Er streckte Raphael seine Hand entgegen.
Raphael musterte ihn ausdruckslos aus klaren dunklen Augen. »Ich kann dir nicht die Hand geben, Werwolf.« Als ein gekränkter Ausdruck über Lukes Gesicht huschte, lächelte derVampirjunge, gerade so breit, dass die weißen Spitzen seiner Eckzähne zum Vorschein kamen. »Ich bin eine Projektion«, fügte er hinzu und hob die Hand, damit die anderen das Licht hindurchschimmern sehen konnten. »Ich kann nichts berühren.«
»Aber … Warum …«, setzte Luke an und schaute zum Mondlicht hinauf, das durch das Glasdach fiel. »Na ja, ich bin jedenfalls froh, dass du hier bist. Ganz gleich, in welcher Erscheinungsform.«
Raphael schüttelte den Kopf. Einen Moment lang ruhten seine Augen auf Clary - ein Blick, der ihr überhaupt nicht gefiel -, dann wandte er sich Jocelyn zu und sein Grinsen verbreiterte sich. »Du«, sagte er, »Valentins Frau. Andere meiner Art, die während des Aufstands dabei waren, haben mir von dir erzählt. Ich muss gestehen, dass ich nicht gedacht hätte, dich jemals persönlich zu Gesicht zu bekommen.«
Jocelyn neigte den Kopf. »Damals haben viele Kinder der Nacht große Tapferkeit gezeigt. Bedeutet deine Anwesenheit, dass wir möglicherweise ein weiteres Mal Seite an Seite kämpfen?«
Es erschien Clary merkwürdig, ihre Mutter so beherrscht und formell reden zu hören, aber für Jocelyn war das offenbar vollkommen normal - genauso normal wie in einem altenfarbbeklecksten Overall auf dem Boden zu hocken und ein Bild zu malen.
»Das hoffe ich zumindest«, erwiderte Raphael, während sein Blick Clary erneut streifte, wie die Berührung einer kalten Hand. »Wir haben nur einen einzigen Wunsch, eine einfache, kleine Bitte. Sobald die erfüllt ist, werden die Nachtkinder vieler Länder mit dem größten Vergnügen gemeinsam mit euch in die Schlacht ziehen.«
»Der Sitz in der Kongregation«, sagte Luke. »Natürlich - das kann sofort in die Wege geleitet werden. Die Dokumente sind innerhalb einer Stunde aufgesetzt…«
»Nein, nicht der Kongregationssitz«, entgegnete Raphael, »sondern etwas anderes.«
»Etwas … anderes?«, wiederholte Luke verdutzt. »Aber was denn? Ich versichere dir, wenn es in unserer Macht liegt…«
»Oh ja, das tut es«, lächelte Raphael zuckersüß. »Genau genommen, handelt es sich um etwas, das sich jetzt, in diesem Moment, innerhalb dieser Mauern befindet.« Er drehte sich um und deutete in Richtung der Menge. »Wir wollen diesen Jungen … diesen Tageslichtler. Wir wollen Simon!«
Der Tunnel schien sich in endlosen Krümmungen serpentinenartig durch den Fels zu winden, sodass Jace nach einer Weile das Gefühl hatte, er würde durch die Gedärme eines riesigen Monsters kriechen. Die Luft roch nach feuchtem Gestein, Asche und irgendetwas anderem - etwas Dumpfem, Muffigem, das Jace entfernt an den Geruch in der Stadt der Gebeine erinnerte. Endlich öffnete sich der Tunnel zu einer kreisrunden Höhlenkammer. Gewaltige Stalaktiten mit glatten, schimmernden Oberflächen hingen von der zerklüfteten hohen Höhlendecke. Auch der Boden wirkte wie poliert und war mit glitzernden Steinplatten in einem geheimnisvollen Muster durchsetzt. Eine Reihe rauer Stalagmiten säumte den Rand der Höhle, in deren Mitte ein einzelner massiver Quarzstalagnit wie ein gigantischer Fangzahn aufragte. Als Jace genauer hinschaute, erkannte er, dass das rötlich schimmernde Gestein an den Seiten tatsächlich
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