Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
den Kopf schief, um besser sehen zu können, doch er konnte nicht lesen, was da stand. »Was, das da?«, fragte er. »Sieht überhaupt nicht wie Schrift aus.«
»Ich fragte meinen Onkel, was es damit auf sich habe, aber er wusste es auch nicht. Daher bat ich ihn um eine Lupe und sah mir die Zeichen genauer an. Und weißt du, was? Ich verstand etwas von dem, was da zu lesen war.« Sie tippte auf das Papier.
»Was für eine Schrift soll das denn sein?«
Charlotte strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wie du vielleicht weißt, habe ich die letzten Jahre in einem Internat in der Schweiz verbracht.«
»Und?«
»Im Grunde war das Internat eine Besserungsanstalt für verwöhnte Mädchen. Eine höhere Töchterschule für junge Damen aus gutem Hause. Abgesehen von einigen spannenden Fächern wie Sprachen, Geografie und Biologie lag der Schwerpunkt auf Hauswirtschaft. Nähen, Kochen, Putzen, Häkeln, Etikette und so weiter. Langweiliges Zeug. Und die jungen Damen, die dort einquartiert wurden, waren ähnlich langweilig. Eingebildete Puten, mit denen nichts anzufangen war. Um ehrlich zu sein, ich bin recht froh, da weg zu sein.« Sie lächelte entschuldigend. »Wie auch immer – ein Mädchen war sehr nett. Silvia Amanon. Mit ihr zusammen hatte ich Spanisch und Französisch. Ihr Vater war der peruanische Botschafter. Sie hat mir immer von ihrem Land erzählt und wie gerne sie wieder dahin zurückkehren würde. Besonders interessiert haben mich die Geschichten von den Ureinwohnern Südamerikas, den Indios. Ihre Sprache heißt Ketschua, die Sprache der Inka. Das Wort Peru heißt übrigens so viel wie ›Wasser‹. Sie konnte die Sprache recht gut und brachte mir ein paar Worte bei. So viel, dass wir uns geheime Botschaften schreiben konnten.« Ihre Augen funkelten. Oskar fand, dass sie mit jedem Augenblick hübscher aussah.
»Und die Worte auf der Platte sind in Ketschua?«
Sie nickte. »Genauer gesagt in Quipu, der Knotenschrift.«
»Und was bedeuten sie?«
Charlotte wiegte bedächtig den Kopf. »So genau weiß ich das auch nicht. Ich konnte nur einzelne Wörter entziffern. Eines, das mir wichtig erschien, weil es immer wieder vorkam, war der Begriff Himmelspfad. Ein verborgener Weg, der in große Höhen führt. Dann war von einer Warnung die Rede und von etwas, was sich mit Regenfresser übersetzen lässt.«
»Regenfresser? Den Namen hat dein Onkel auch schon erwähnt.«
Das Mädchen nickte. »Alles sehr dubios. Ich habe nichts von alledem verstanden. Aber bei dem Begriff Himmelspfad war er plötzlich ganz aus dem Häuschen. Er zog alte Bücher heraus – Reiseberichte oder etwas Ähnliches – und begann, darin herumzustöbern. Es dauerte über eine halbe Stunde, ehe er wieder ansprechbar war.« Sie lächelte versonnen. »Ich glaube, dass ich etwas wirklich Bedeutsames entdeckt habe. Bisher habe ich immer nur über Leute gelesen, die etwas erfinden oder entdecken. Ich hätte nie gedacht, dass mir das selbst mal gelingen könnte.«
Oskar blickte sie schief an. »Hast du nicht gesagt, du wärst seine Assistentin? Dann musst du doch schon etliche Reisen mit ihm unternommen haben.«
Sie räusperte sich. »Ähem, nein.« Ein Anflug von Rot strich über ihre Wangen. »Ich fürchte, das war ein wenig übertrieben. Außer der Schweiz habe ich noch kein anderes Land dieser Erde besucht. Aber das wird sich nun ändern. Diese Reise nach Peru wird sozusagen meine erste richtige Bewährungsprobe und die möchte ich auf keinen Fall vermasseln.«
»Aha.« Oskar grinste.
»Du brauchst gar nicht zu lachen«, sagte sie, schon wieder ein wenig ärgerlich. »Ich will nach Peru, weil ich all die Sachen erleben will, von denen ich bisher immer nur gelesen habe. Schluss mit der grauen Theorie. Ich möchte diese Stadt finden und die fliegenden Schiffe mit eigenen Augen sehen. Machst du mit?«
»Sehr gerne«, flüsterte Oskar.
»Dann sollten wir schnell zu Bett gehen. Wenn ich meinen Onkel richtig verstanden habe, geht der Zug nach Hamburg recht früh. Ich bin sicher, es wird ein langer Tag werden. Und eine noch viel längere Reise«, fügte sie mit einem bedeutsamen Augenaufschlag hinzu.
13
San Francisco, drei Wochen später …
Max Pepper hatte die Nase voll. Erst die schier unendlich scheinende Zugfahrt mit der Transcontinental quer durch die Staaten, in unbequemen Liegewagen und auf holperigen Strecken, mit verpassten Anschlusszügen, Aufenthalten in irgendwelchen staubigen Wüstennestern, Bauarbeiten und
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