Chroniken der Weltensucher 04 - Der Atem des Teufels
Weg zu ihren Häusern. Sie kehrten von den Feldern zurück und nutzten die verbleibende Zeit für ein paar Gespräche und den Austausch von Neuigkeiten. Niemand achtete auf den Berg, der mit feurigem Auge auf sie herabblickte. Still und dunkel lag er da. Ein Haufen lebloses Gestein, so könnte man meinen.
Doch der Eindruck trog.
Tief in seinem Inneren rumorte es. Eine Kraft, älter als dieses Land, älter als die Menschen, die es bewohnten, stand im Begriff, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Eine Kraft, die seit tausend Jahren geschlafen hatte und die nun geweckt worden war. Über dem Haupt des Berges brodelte die Atmosphäre. Aufgeheizte Luftmassen prallten auf eine sich rasch zusammenbrauende Kaltfront und begannen in einem infernalischen Tanz umeinanderzukreisen. Wassertröpfchen, so klein, dass sie dem bloßen Auge nur als Nebel erschienen, rieben gegeneinander und bauten ein enormes Feld an elektrischer Energie auf. Die pechschwarzen Wolken begannen von innen heraus zu leuchten. Sie flackerten, erloschen und erwachten von Neuem zum Leben. Nicht lange danach verließ der erste Blitz die brodelnde Hexenküche und schlug mit markerschütterndem Knall in den sonnenerwärmten Boden. Der Tanz der Elemente konnte beginnen.
Lena blickte erschrocken hinauf zum Haupt des Bromo. Ein Blitz war dort eingeschlagen und hatte für einen kurzen Moment die gesamte Kuppe erleuchtet. Dann folgte der Donner. Ein tiefes, unheilvolles Rumpeln, das die Erde unter ihren Füßen zum Wanken brachte. Das Unwetter kam rasch näher. Sie konnte bereits die ersten Regentropfen spüren.
In der Schlucht zu ihren Füßen waberten geisterhafte Nebel. Sie wogten über den Grund, ließen die Formen unklar werden.
Lena zog an ihren Fesseln. Die Stricke saßen wie festgewachsen. Der Holzpfahl drückte ihr ins Kreuz und die Rinde war rau und uneben. Rasch ins Erdreich getrieben, wirkte er wie ein abgestorbener Baum, den man entlaubt und all seiner Äste beraubt hatte. Lena versuchte eine bequemere Position einzunehmen, doch das war nicht möglich.
Sie drehte den Kopf und spähte nach hinten. Bhamban und seine Wachen standen etwa hundert Meter entfernt am Waldrand und warteten. Sie waren als schwarze Schemen zu erkennen.
Was würde geschehen, wenn die Steinernen aus den Tiefen aufstiegen? Was taten diese Kreaturen mit den Menschen, die sie verschleppten? Lena erinnerte sich, dass nie irgendwelche Leichen gefunden worden waren. Die Möglichkeit eines gewaltsamen Todes schied also eigentlich aus. Aber was dann? Wohin würden sie sie bringen? Und was würde aus ihren Freunden werden, was aus Humboldt, Charlotte, Eliza und Oskar?
Der Gedanke an sie ließ die Verzweiflung in ihr hochsteigen.
Gestern um diese Zeit waren sie noch so glücklich gewesen. Das Konzert, der wundervolle Tanz und die schönen Lichter.
Aber sie hatte ja unbedingt auf dieses Abenteuer mitgewollt.
Hatte gedacht, sie könne Oskar so einfach um den Finger wickeln. Tja, so konnte man sich täuschen. Es war so ziemlich alles schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte.
Sie hob den Kopf.
Tief unten in der Schlucht regte sich etwas. Ein Wabern, ein Zucken, ein Huschen, dann war es wieder still. Lena kniff die Augen zusammen. Ihre Sinne waren aufs Äußerste gespannt. War das nur Einbildung gewesen?
Da war es wieder. Diesmal konnte es keinen Zweifel geben. Irgendetwas huschte da unten durch den Nebel. Da war noch so ein Ding … und da noch eines. Die Bewegungen hatten etwas unglaublich Verstohlenes. Sie vernahm ein leises Flüstern, dann ein Scharren. Steine rieselten die Böschung hinab. Ein trockenes Husten erklang, gefolgt von einem Zischen. Kein Zweifel: Irgendjemand, irgendetwas, kam die Steilwand herauf.
Der Regen hatte eingesetzt. Dicke Tropfen klatschten auf das strohgedeckte Dach der Gefangenenhütte und ließen die Bambusstäbe erzittern. Wasser strömte von außen in die Hütte. Draußen vor der Tür huschte ein Schatten vorbei. An dem Loch, das Wilma gegraben hatte, machte sich jemand zu schaffen. Oskar sah einen Kopf, ein paar Schultern, dann schwarze Haare. Ein kurzes Ächzen, ein leises Stöhnen, dann war der Fremde drin. »Dimal!«
»Pst!« Der Prinz triefte vor Nässe. Sein schönes Gewand starrte vor Dreck. Mit Mühe unterdrückte er ein Niesen. Im Dunkel der Hütte leuchteten seine Augen wie zwei Edelsteine.
»Hat Wilma euch die Nachricht ausgerichtet?«
Humboldt nickte. »Wir warten schon seit einiger Zeit auf dich. Dachte, du
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