Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
verbunden sind. Wilma ist jetzt auf dem Weg in die Zukunft. Nur einen Tag wohlgemerkt. Für sie selbst dürfte die Fahrt allerdings nicht länger als ein paar Minuten dauern.«
»Und wie kommt sie wieder zurück?«
»Da die Maschine ja jetzt von der Stromquelle abgekoppelt ist, wird sie wie von einem unsichtbaren Gummiband in unsere Gegenwart zurückgezogen, wenn die Vorwärtsbewegung nachgelassen hat. Wilma kann die Kugel nicht verlassen, daher dürfte keine Gefahr bestehen, dass wir sie verlieren.«
Oskar ging das alles viel zu schnell. Er blickte auf den leeren Steinsockel und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe immer noch nicht. Wo ist sie jetzt genau?«
»Nicht wo «, sagte Humboldt. »Was ihre räumliche Position betrifft, so ist sie immer noch hier. Sie hat ihren Standort ja nicht verändert. Die Frage muss also lauten: wann . Und die Antwort darauf lautet: morgen .«
»Wie kann das sein?« Oskar schwirrte der Kopf. »Wenn sich ihre Position nicht verändert hat, müsste sie ja immer noch hier sein. Aber hier ist nichts.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft über dem Sockel. »Seht ihr? Absolut leer.«
Humboldt lächelte wissend. »Gräme dich nicht, ich habe auch eine ganze Weile gebraucht, um es zu verstehen. Die Tatsache, dass wir über kein zeitliches Sinnesorgan verfügen, macht es uns schwer, das zu verstehen. Uns fehlt einfach das Gefühl dafür. Es ist, als würdest du jemandem, der sein ganzes Leben zu ebener Erde verbracht hat, das Phänomen von Höhe zu erklären versuchen, oder einem Blinden das Phänomen der Farben. Wilma ist aus der Gegenwart in unsere Zukunft gerutscht. Da wir ihr nicht dorthin folgen können, erscheint es uns, als wäre sie verschwunden. Doch sie ist immer noch hier. Nur nicht in unserer Zeit.«
Oskar schüttelte enttäuscht den Kopf. Es hörte sich so einfach an, doch sobald er versuchte, darüber nachzudenken, verkrampfte sich irgendetwas in seinem Gehirn.
Humboldt klopfte ihm auf die Schulter. »Passt auf: Ich gebe euch meine Uhr. Ihr sagt mir Bescheid, wenn die veranschlagten fünf Minuten abgelaufen sind. So lange wird es nämlich dauern, bis die Maschine leergelaufen ist und wieder zu uns zurückkehrt. Ich selbst kümmere mich derweil um die Generatoren. Die müssen jetzt erst mal abkühlen, sonst sind sie beim nächsten Mal nicht zu gebrauchen.«
Während Humboldt nach hinten zu den Stromquellen ging, blickten Charlotte und Oskar wie gebannt auf die Uhr. Fünf Minuten, hatte der Forscher gesagt. Was passierte in fünf Minuten? Würde es wieder so einen Knall geben? Charlotte schien ebenso wenig Ahnung zu haben wie er, denn sie zuckte nur mit den Schultern.
Der Sekundenzeiger wanderte in quälender Langsamkeit um das Zifferblatt. Einmal, zweimal, dreimal. Als er nach der vierten Umrundung wieder bei der Zwölf angelangt war, gab Charlotte ihrem Onkel ein Zeichen. »Noch dreiÃig Sekunden«, sagte sie.
»Tretet besser ein Stück zurück«, sagte Humboldt.
Oskar und Charlotte befolgten seinen Rat und blickten weiter auf die Uhr. »Drei, zwei, eins ⦠und ⦠jetzt .«
Nichts passierte.
Der Forscher kam zu ihnen herüber. »Darf ich mal sehen?« Der Zeiger der Uhr wanderte unbeirrt weiter, ohne dass etwas geschah. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Eigentlich müsste sie jetzt zurückkommen.«
Gemeinsam warteten sie noch eine Weile, ohne dass das Zeitschiff wieder auftauchte.
Oskar bekam ein mulmiges Gefühl.
»Und was bedeutet das jetzt? Ist Wilma etwa �«
Humboldt starrte immer noch auf die Uhr. Sein Ausdruck war ernst. »Ich kann es dir nicht sagen, mein Junge«, murmelte er. »Irgendetwas ist schiefgegangen. Vielleicht der Zeitgeber. Ich habe die Maschine bisher nie länger als ein paar Minuten in die Zukunft geschickt. Möglich, dass ich mich um ein oder zwei Tage vertan habe.«
»Vertan?« Charlotte stemmte die Hände in die Hüfte. »Du hast gesagt, es könne nichts passieren. Was ist mit Wilma? Ich dachte, das Ding wäre sicher.«
»Wilma geht es gut. Ein paar Minuten mehr oder weniger werden für sie keinen Unterschied machen. Die Feinjustierung ist nicht so einfach, wie du denkst. Wir reden hier von einer Maschine, die in der Lage ist, Hunderte oder gar Tausende von Jahren zu überbrücken. Verglichen damit ist ein Tag
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