Chronos
Paradies.
War er hier glücklich? Billy konnte es nicht entscheiden. Die meisten Tage verstrichen in seligem Vergessen, und dafür war er dankbar. Aber es gab Augenblicke, da spürte er eine zermürbende, quälende Einsamkeit. Dann erwachte er mitten in der Nacht in einer Stadt, die mehr als ein Jahrhundert von seinem Zuhause entfernt war, und diese unvorstellbare Distanz war wie ein bohrender Pfeil in seinem Herzen. Er dachte an seinen Vater, Nathan. Er versuchte sich an seine Mutter zu erinnern, die gestorben war, als er noch klein war. Er dachte über sein Leben hier im Exil nach, gestrandet auf dieser Insel, Manhattan, zwischen Leuten, die schon hundert Jahre tot waren, als er geboren wurde. Er dachte über sein Leben inmitten dieser Gespenster nach. Er dachte an Zeit, an Uhren. Uhren, genauso wie Worte, funktionierten hier etwas anders. Billy war an Uhren gewöhnt, die Zeit zählten und sie mit Cursors markierten, lineare Abschnitte eines linearen Phänomens. Hier waren die Uhren rund und symbolhaft. Zeit war ein Bereich, der in Kreisen erfasst wurde.
Zeit und Worte. Jahreszeiten. In diesem Januar geriet Billy in einen Schneesturm, der den Busverkehr auf Kriechtempo herunterbremste. Müde und durchkühlt entschied er, lieber in ein Hotel zu gehen, als den Weg nach Hause zu Fuß zurückzulegen. Er fand ein billiges Hotel und fragte den Angestellten an der Rezeption nach einem Zimmer mit einer Dirne. Der Angestellte reagierte mit einem seltsamen Lächeln und sagte, dafür würde er schon selbst sorgen müssen – er empfahl dazu eine Bar ein paar Straßen weiter. Billy verbarg seine Verwirrung und nahm trotzdem das Zimmer, dann begriff er, dass das Wort »Dirne« im Jahre 1953 eine andere Bedeutung haben musste. Das gesamte Zimmer, das ganze Hotel war geheizt. Wahrscheinlich war jeder Raum in der Stadt erwärmt, sogar die öffentlichen Kundenhallen der Banken und die Vorhallen der Wolkenkratzer, und das den ganzen bitteren Winter hindurch. Es fiel ihm schwer, diese Tatsache zu verarbeiten. Als er das Prinzip endlich begriff, war er von seiner Unwissenheit völlig überwältigt und benommen.
In seinem Hotel schlafend, träumte Billy von all der Wärme ... Wärme von hundert Sommern, wie sie von dieser und einem Dutzend anderer ähnlicher Städte aufstieg, jahrzehntelang in unsichtbaren Wolkenbänken gespeichert worden war und sich schließlich zu einer endgültigen Vernichtung der Jahreszeiten herabsenkte.
Er träumte von Ohio und von einer Farm in der Wüste dort.
Das Bedürfnis nach der Rüstung war anfangs unaufdringlich, kaum das Aufflackern einer Sehnsucht, etwas, das er ignorieren konnte – einstweilen jedenfalls.
Die Rüstung, mit abgeschalteter Energie und Sensorfeldern, lag in der Kiste, die Billy für sie ausgesucht hatte, wie Stoff aus irgendeinem märchenhaften Modeladen. Sie sah aus wie gesponnenes Gold, obgleich sie nicht aus richtigem Gold bestand. Sie war aus komplizierten Polymolekülen gewebt, die in den großen Waffenherstellungskollektiven an der Ostküste angebaut wurden. Einige Teile waren elektronischer Natur, andere konnten als lebendig gelten.
Die Infanterieärzte hatten Billy erklärt, dass er ohne seine Rüstung sterben müsse – dass er ohne die lebenswichtigen Neurochemikalien, die im Deckflügel erzeugt wurden, verrückt würde. Billy war sich darüber im Klaren, dass er ohne die Rüstung langsam, träge, schläfrig und geschlechtslos war. Aber das ertrug er – in gewisser Weise war dieser Zustand sogar beruhigend. Sechs Monate lang wanderte er durch die Stadt, die Augenlider schwer und halb geschlossen und den Mund zu einem leeren, berauschten Lächeln verzogen.
Dann setzte die Not ein.
Zuerst war es nur ein kribbelndes Unbehagen, ein Stechen und Prickeln in seinen Fingern und Zehen. Billy ignorierte es und ging weiterhin seinen Geschäften nach.
Dann wurde aus dem Kribbeln ein Jucken, aus dem Jucken ein schmerzhaftes Brennen. Die Haut in seinem Gesicht fühlte sich wie straff gespannt an, als wäre sie zurückgezogen und an seinem Haaransatz vernäht worden. Er erwachte im bitterkalten Spätwinter dieses Jahres mit der beunruhigenden Empfindung, dass er die Öffnungen und Konturen seines eigenen Schädels unter der Haut spüren konnte. Er hatte ständig Durst, aber Leitungswasser schmeckte in seinem Mund sauer und brannte in seinem Hals, wenn er es schluckte. Er erlebte plötzliche Anfälle von Panik, von irrationaler Angst vor Höhe, vor weiten Räumen, vor
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