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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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sich geworfen hatte. Er war allein, erst in einigen Metern entdeckte er wieder Kameraden, die gleich ihm zwischen Bangen und Hoffen schwankten. Und die Stille wirkte mit einem Mal bedrohlicher als das Artilleriefeuer zuvor.
    Alle warteten angespannt auf den heranstürmenden Feind. Doch nichts rührte sich von der anderen Seite der Front. Dann hob mit einem Mal ein leises Zischen an. In einiger Entfernung von ihm reagierte ein Soldat als Erster darauf.
    „Gas!“, schrie der Mann hysterisch. „Gas!“
    Nun kam erst recht Panik auf. Hektisch suchten die Soldaten nach ihren Gasmasken, und auch er tappte verzweifelt nach links und nach rechts, um den lebensnotwendigen Schutz zu finden. Er sah sich im Schützengraben um, war bereit, einem toten Kameraden dessen Maske abzunehmen, als er schon die senfbraune Wolke auf sich zukommen sah. In nackter Angst sprang er auf und versuchte, der Wolke davonzulaufen. Wenn er den Unterstand erreichte, würde es ihm vielleicht gelingen,dem leisen Tod zu entgehen. Doch nach ein paar Metern stolperte er über die Leiche eines gefallenen Kameraden und fiel der Länge nach hin. Noch während er versuchte, sich wieder aufzurappeln, hatte die Wolke ihn erreicht und nebelte ihn ein.
    Er bekam keine Luft mehr. Das stechende Gift brannte in seinen Atemwegen und raubte ihm die Besinnung. Wie ein Fisch am Trockenen schnappte er nach dem Lebensodem, doch blieb sein Mühen vergeblich. Es war nur noch Gas, das in seinen Körper eindrang, Gas, das ihn auslöschen würde.
    „Ich sterbe“, keuchte er, „oh mein Gott, ich sterbe! Hilfe! Ich will nicht …“ Ihm war, als würde er langsam und qualvoll erwürgt. Taubheit kroch seinen Körper empor, und bald schon war er nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Er nahm nichts mehr wahr, war nicht länger Mensch, nur noch absterbender Organismus. Ein, zwei Seufzer noch, dann würde er ganz tot sein. Eine namenlose Leiche in einem namenlosen Niemandsland in einer namenlosen Schlacht.
    Ein letztes Mal noch bäumte er sich auf. Er durfte so nicht wegdämmern. Er war es sich selbst schuldig, sich nicht einfach wie ein Lamm auf der Schlachtbank vom Leben zum Tod befördern zu lassen. Er presste die Zähne zusammen und rollte sich unter Aufbietung der allerletzten Kräfte auf den Rücken. Nach einigen Sekunden riss er die Augen weit auf, doch er nahm nur pechschwarze Finsternis wahr. „Oh mein Gott, verlass mich nicht!“ Mit einem Ruck, den er sich selbst nicht mehr zugetraut hätte, setzte er sich auf. „Nicht sterben, nicht sterben, nicht sterben“, wiederholte er immer wieder für sich. Dann kniff er die Augen wieder zu, hielt einen Moment neuerlich den Atem an – und dann öffnete er den Mund zu einem markerschütternden Schrei.
    Er saß aufrecht da, und alles, was er hörte, war das monotone Ticken des Weckers. Langsam begannen seine Augen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. In einiger Entfernung wurdeer des Fensters seines Schlafzimmers gewahr. Er atmete noch eine Weile heftig, ehe er sich allmählich beruhigte. Seine rechte Hand tastete nach der Nachttischlampe, und ihr Licht vermittelte endlich Sicherheit. Er riskierte einen Blick auf den Wecker. Drei Uhr früh. Dahinter hing der Kalender an der Wand und zeigte den 7. November 1918 an. Bronstein sank erleichtert auf sein Kissen zurück. Seit der Giftgasattacke vor Tarnow Gorlice waren mehr als drei Jahre ins Land gezogen. Der Krieg war vorbei, und er lag wohlbehalten in seinem Bett. „Nur wieder einer von diesen Alpträumen“, murmelte er, während er das Licht wieder löschte, „nur wieder einer von diesen Träumen.“
    Und während er sich noch fragte, wann diese endlich auch der Vergangenheit angehören würden, schlief er bereits wieder ein.

I.
Donnerstag, 7. November 1918
    Hartnäckig wehrte sich Bronstein gegen das Erwachen. Er versuchte, das penetrante Scheppern des Weckers in andere Bewusstseinsebenen zu verbannen, doch schließlich blieb ihm nichts als die Kapitulation. Entschlossen schlug er die Bettdecke auf, und sofort begann er zu frösteln. Die Kälte holte seine Lebensgeister aus ihrer Bewusstlosigkeit. Mit einem Ruck setzte Bronstein sich auf und dann seine Füße auf den Boden. Tapsend suchten sie nach den Hausschuhen, um schließlich eilig darin zu verschwinden, dankbar für die darin zu findende Wärme. Er gähnte herzhaft und versuchte sich zu strecken. Spontan auftretender Rückenschmerz ließ ihn jedoch rasch von diesem Ansinnen Abstand nehmen. Bronstein seufzte

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