Circulus Finalis - Der letzte Kreis
nicht.
Die Theorie bestimmt, was wir beobachten kö nnen, hat Albert Einstein gesagt. Ich muss an etwas denken, das Anska mir einmal erzählt hatte: Fast bei jedem Flugzeugabsturz gibt es einen Augenzeugen, der zuvor Feuer oder eine Explosion gesehen haben will, oder wenigstens Rauch. Eine unterbewusste Assoziation; die Vorstellung, dass dergleichen einem Flugunfall vorangeht. Weil unsere Wirklichkeit nur eine zusammengestückelte Konstruktion ist.
Die Bausteine dieser Konstruktion sind individuell und harmlos, solange sich unsere Ü berzeugungen im Gleichgewicht befinden mit dem Wissen um unser Unwissen, um die Ungewissheiten und Unwägbarkeiten des Daseins und um den Wert der Toleranz.
Deshalb war i ch hier: weil der spielerisch erfundene Anspruch des Circulus Finalis auf etwas Absolutes, auf eine letzte Wahrheit, sich in den Köpfen meiner ehemaligen Kollegen festgesetzt und das Gleichgewicht gestört hatte. Weil er zum nicht mehr hinterfragten Bestandteil ihrer Wirklichkeit geworden war.
Das letzte, was ich wahrnahm, war, dass der Motor angelassen wurde und der Rettungswagen sich in Bew egung setzte.
So gelangte ich in den Keller.
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Demut empfindet man, wenn die Aussicht eing eschränkt ist, oder wenn sie bis zum Horizont reicht. Plötzlich verspüre ich Lust zu Reisen, denen gegenüber mir meine bisherige Geringschätzung kurzsichtig erscheint. Vielleicht ist es auch nur ein sublimiertes Bedürfnis nach Flucht.
Eigentlich fehlt mir wenig, und doch lasten die Tage im Keller immer schwerer auf mir. Auch der Schlaf bringt nicht mehr Vergessen, sondern ist eine einzige Nachtmeerfahrt: Im Traum sehe ich Gefangene, die alles Menschliche verloren haben, von ihren Befreiern oder von grausamen Wärtern ans Licht gezerrt, bleich und aufgedunsen, mit gefräßigen Nekrosen an den Gliedmaßen, und sich dabei mit aller Kraft dagegen wehrend, hinaus gezwungen zu werden aus ihren unterirdischen Verliesen. Gelegentlich male ich noch, aber drückender und finsterer werden die Zeichen und Bilder auf den Fliesenquadraten.
Etwas verä ndert sich; da ist die Vorfrühlingsluft, die verdünnt ihren Weg hierher findet, da sind erkennbare Schwankungen in der Qualität und Menge meiner Nahrung, so als gebe man sich weniger Mühe oder sei der Umstände überdrüssig. Aber wann bleiben die Dinge schon mal so, wie sie sind? Wir lieben die Fotografie, weil sie unserem Bedürfnis nach Statik und vermeintlicher Dauer entgegenkommt. Die Veränderung ist allgegenwärtig, die einzige Konstante.
Was kann ich noch verä ndern? Menschliche Entwicklung, im Kleinen wie im Großen, braucht Zielvorstellungen: Nicht den Wunsch nach Komfort, Besitz, Anerkennung, problem- und konfliktlosem Wohlbehagen – sondern eine Vorstellung davon, wer man sein möchte, egal ob die äußeren Umstände gerade angenehm sind oder nicht. Aber wie viel Zeit bleibt mir noch?
Religionen und Mysterien leben von Opfern, weil nichts so wie ein Opfer ihren Anspruch demonstriert, allen hergebrachten Werten ü bergeordnet zu sein. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein wird, und stelle mit Überraschung fest, dass ich trotz meiner alltäglichen Begegnungen mit dem Tod, trotz all der Einsätze im Rettungsdienst, kaum je darüber nachgedacht habe. Ich blättere die beschriebenen Seiten durch: Auch hier kaum ein Wort.
Also mache ich mir Gedanken.
Das Sterben stelle ich mir vor wie eine Injektion in den Muskel: Je mehr man sich dagegen sperrt, desto mehr verkrampft der Körper, desto schmerzhafter wird es. Das gilt es, zu vermeiden. Es gibt einfach Dinge, die man geschehen lassen muss.
Und der Tod? Als ich ein Kind war, dachte ich in mir harmlos, kü hl und sacht, doch jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Ist es, weil sich das Ego inzwischen so sehr aufgeblasen hat, und von seiner eigenen Einzigartigkeit überzeugt ist, dass der Gedanken an ihren Verlust nur schwer zu ertragen ist? Dass man sich flüchtet in die Vorstellung, es müsse weiter bestehen, es könne unmöglich einfach verschwinden?
Was wä ren wir doch für Kleingeister, so zu denken; wenn etwas von uns weiter bestehen sollte, dann hoffentlich nicht der Teil, der sich für unersetzlich hält. Wir bleiben in jedem Fall Bestandteil dieser Welt: Unsere Substanz, vielleicht auch unsere Gene, unsere Ideen, Taten, Werte, und das Beispiel, das wir gegeben haben. Ich muss an Schlager denken, an Fellenbeck. Vielleicht lösen wir uns nicht so sehr auf, als dass wir uns wieder mit allem verbinden. Der vedantische
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