Circus
Wochen hatten.«
Es wurde wieder hell. Die ›Blinden Adler‹ standen nur etwa sechs Meter über dem Boden auf einer Plattform, von der aus ein Drahtseil zu einer zweiten Plattform gespannt war, die sich am anderen Ende der mittleren Manege befand. Die beiden anderen Manegen waren leer, und es war kein anderer Circusangehöriger in Sicht – außer einem, und der befand sich auf dem Boden. Es gab keine Musik, und unter den Zuschauern herrschte absolute Stille.
Bruno saß auf einem Fahrrad. Auf seinen Schultern war ein hölzernes Joch befestigt, und einer seiner Brüder hielt eine dreieinhalb Meter lange Eisenstange in der Hand. Bruno schob das Fahrrad so weit nach vorn, bis das Vorderrad auf dem Seil stand, und wartete, bis sein Bruder die Eisenstange in die dafür vorgesehenen Kerben über das Joch gelegt hatte. Als Bruno beide Füße auf die Pedale stellte und losfuhr, griffen seine Brüder nach der Eisenstange, beugten sich vor und hängten sich – jeder auf einer Seite – an die Stange. Alle ihre Bewegungen verliefen in perfektem Gleichklang. Das Drahtseil sackte merklich durch, aber Bruno irritierte das nicht im mindesten – langsam und unbeirrt fuhr er das Seil entlang.
Die nächsten paar Minuten fuhr Bruno – teilweise selbst balancierend, hauptsächlich aber durch das perfekte Timing seiner Brüder im Gleichgewicht gehalten – auf dem Seil vor und zurück, während seine Brüder einige vorsichtige, aber sehr komplizierte Kunststücke vollführten. Einmal verstärkten die Brüder ihre schwingenden Bewegungen so lange, bis sie im Handstand auf der Stange standen. Das Publikum war atemlos, was nicht nur dem sensationellen Schauspiel in der Luft zuzuschreiben war, sondern sicher auch der Tatsache, daß unter den drei waghalsigen Männern Neubauer mit seinen zwölf nubischen Löwen agierte, deren Blicke sehnsüchtig nach oben gerichtet waren.
Am Ende der Darbietung entlud sich die angestaute Spannung des Publikums in einem lauten, kollektiven Seufzer, dem ein langanhaltender und ohrenbetäubender Applaus folgte.
»Ich bin mit meinen Nerven am Ende«, sagte Pilgrim. »Gehen wir. Wrinfield wird mir nachkommen. Wenn er Sie auf seinem Rückweg zu seinem Platz streift, dann heißt das, daß Bruno bereit ist, mit uns zu sprechen, und daß Sie ihm am Ende der Vorstellung unauffällig folgen sollen. Wrinfield, meine ich.«
Ohne in irgendeine bestimmte Richtung zu schauen, erhob sich Pilgrim und ging. Unmittelbar darauf verschwand auch Wrinfield. Ein paar Minuten später saßen die beiden Männer in einem von Wrinfields Büros, dessen Ausstattung jede Sekretärin in Verzückung versetzt hätte, obwohl es etwas klein war. Wrinfield hatte gleich hinter der Manege ein viel größeres Büro, in dem er normalerweise residierte, aber das hatte keine Cocktailbar wie dieses. Da er jedem Mitarbeiter des Circus den Besitz von Alkohol auf dem Circusgelände verbot, hielt er es nur für fair, sich in dieses Verbot mit einzuschließen.
Das Büro war nur ein winziger Teil des kompakt konstruierten Ganzen, aus dem das bewegliche Heim der Circusleute bestand. Von Wrinfield abwärts schliefen alle Angehörigen des Circus in diesem Zug, abgesehen von ein paar unabhängigen, hartgesottenen Burschen, die darauf bestanden, mit ihren Wohnwagen die Weiten der Vereinigten Staaten und Kanadas zu durchfahren. Auch sämtliche Tiere fuhren in dem Zug mit. Und am Ende, vor dem Bremswagen, waren auf vier stabilen, flachen, offenen Güterwagen all die sperrigen Ausrüstungsgegenstände untergebracht, von Traktoren bis zu Kränen, die für das einwandfreie Funktionieren des Circus unerläßlich waren. Alles in allem war der Zug das Ergebnis einer genialen Planung zur optimalen Ausnutzung des verfügbaren Platzes. Er war über eine halbe Meile lang.
Pilgrim nahm dankend einen Drink entgegen und sagte: »Bruno ist der Mann, den ich haben möchte. Glauben Sie, er wird mitmachen? Wenn nicht, können wir Ihre Europatournee gleich vergessen.«
»Er wird mitmachen, und zwar aus drei Gründen.« Wrinfields Ausdrucksweise war wie der Mann selbst: präzise und wohlbedacht. »Wie Sie wohl gesehen haben, kennt Bruno keine Furcht. Wie alle erst kurz naturalisierten Amerikaner – schon gut, schon gut, er ist jetzt seit über fünf Jahren naturalisiert, aber das ist so, als sei es erst gestern gewesen – verfügt er über einen Patriotismus, der Ihren und meinen als jämmerlich erscheinen läßt. Und außerdem hat er auch noch eine große
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