Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
diesem Wetter sieht uns kein Mensch.«
Der Vogel antwortete mit einem Krächzen – ein derart lauter, durchdringender Schrei, dass sich Cirrus am liebsten die Ohren zugehalten hätte –, und dann fing er an, langsam mit den Flügeln zu fächeln und mit kräftigen Hitzeschüben die schon schwüle Luft noch mehr aufzuheizen. Die Krähen krächzten in begeisterter Zustimmung.
Zu Cirrus’ Verblüffung blähte sich nun der Stoff über dem Korb langsam auf und fing an zu flattern, als hätte sich darin jemand verfangen, und dann hob der Korb sacht ein paar Zentimeter vom Boden ab. Cirrus tastete nach der Stallwand, er traute seinen Augen nicht. Was war das für ein Zauber? Träumte er etwa? Er presste die Stirn gegen den kühlen Stein und versuchte, seine rasenden Gedanken unter Kontrolle zu bringen, doch auf einmal fiel ihm die bedrohliche Stille ringsum auf.
Der Vogel hatte aufgehört, mit den Flügeln zu schlagen, und auch die Krähen waren verstummt. Der Mann blickte in Cirrus’ Richtung.
Einen schrecklichen Moment lang trafen sich ihre Blicke, dann sprang Cirrus auf die Füße. Bevor er jedoch davonlaufen konnte, war der Mann mit wenigen Sätzen neben ihm.
»Ah, du bist das!«, rief er. »Willst wohl schon wieder meinem Vogel Angst einjagen, wie?«
Cirrus taumelte zurück und stolperte über einen Schutthaufen hinter sich. »Nein, Sir«, sagte er, als sich der Mann über ihn beugte. »Ich hab nur zugesehen, wirklich.«
»Na warte, dir will ich beibringen, dich um deinen eigenen Kram zu kümmern«, sagte der Mann, indem er Cirrus am Kragen packte und so weit hochhob, dass seine Füße in der Luft schwebten.
Doch nun konnte Cirrus sehen, dass auf dem Kopf des Mannes noch mehr dieser schwarzen Zeichen waren, ganz ähnlich den Tätowierungen auf seinen Armen. Netze aus farbigen Linien, die unter der Dreckschicht kaum zu erkennen waren. »Deine Nase in Dinge stecken, wo sie nichts zu suchen hat! Ich werd dir’s zeigen …«
Plötzlich hielt er inne, und sein Gesichtsausdruck änderte sich. Er runzelte die Stirn und warf einen kurzen Blick auf die Plakette, die Cirrus am Hals trug. Das Medaillon der Findelkinder, die kleine Messingscheibe mit dem eingravierten Lamm. Anders als die anderen Jungen im Heim hatte Cirrus allerdings nie eine Nummer erhalten.
»Na, so was«, sagte der Mann leise und lockerte seinen Griff ein wenig. »Du bist also der Junge, nicht wahr?«
Cirrus gelang es, sich loszureißen, und er rannte zur anderen Seite des Stalles, immer den adlergleichen Vogel im Auge, der ihn von der Lichtung her beobachtete. Unheilvoll stumm hockten die Krähen in den Bäumen über ihm.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir«, schnaubte er mit einem hastigen Blick zu dem holprigen Weg, der zur Brücke führte. Ob er die Wiese hinter dem Heim erreichen könnte, ehe die Vögel eine Chance zum Angriff hätten?
Der Mann kam wieder näher. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er. »Ich will dir nichts tun. Nur die Kugel will ich, weiter nichts als die Kugel.«
Cirrus schüttelte den Kopf. »Die was, Sir? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Die Kugel, Junge, die Kugel!«, rief der Mann, aber jetzt wirbelte Cirrus herum und raste, so schnell ihn seine Beine trugen, den Weg entlang. Eine Weile hörte er die stampfenden Schritte des Mannes hinter sich, aber sie fielen bald zurück, und auch die Krähen, die bei Cirrus’ Flucht unter lautem Gekrächze aufgestoben waren, verfolgten ihn nicht.
Mit laut pochendem Herzen rannte er über die Brücke und jagte über die Wiese in Richtung Galgenbaum, das lange Gras peitschte um seine Füße und die schwüle stickige Luft wehte ihm ins Gesicht. Das Blut schoss durch seine Adern, er japste nach Luft.
Nur einmal, schon in der Nähe der Schotterstraße, wagte er einen Blick zurück, aber nichts deutete darauf hin, dass der Mann aus Black Mary’s Hole ihm folgte. Trotzdem verringerte er sein Tempo nicht, sondern rannte weiter, bis er die Rückseite des Heims erreicht hatte. Er kletterte mithilfe des Seils auf die Mauer, sprang auf der anderen Seite hinunter und mischte sich unauffällig unter die anderen Jungen, die nun, nach ihrem kalten Bad, auf dem Weg zur Kapelle waren.
Durch London
Pandora schlang die Finger um die Stangen des eisernen Geländers und wartete. Sie hatte Mr Sorrel an diesem Abend getäuscht, als sie vorgab, in ihr Zimmer zu gehen: Sie hatte nur so getan als ob, hatte kehrtgemacht, sich hinausgeschlichen und war um das Haus
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