Cirrus Flux - Der Junge, den es nicht gab
ausgekundschaftet hatten, war jetzt keine Spur mehr zu sehen. Nur ein Haufen zerbrochener Zweige und Stöcke lag auf dem Boden. Cirrus scharrte mit dem Fuß darin herum, fand aber keinen Beweis für das Wesen, das einmal darin gesessen hatte. Keine Feder, keine Schale. Sogar die Kügelchen, die er beim letzten Mal entdeckt hatte, waren verschwunden. Hatte er sich geirrt? War sein Verdacht falsch gewesen?
Ein Geräusch drang an seine Ohren.
Kling-Klang-Klang.
Es hörte sich an wie das Hämmern in einer Schmiede und schien vom angrenzenden Feld zu kommen. Aus der Richtung von Black Mary’s Hole.
Cirrus lief es kalt über den Rücken, und wieder einmal wünschte er, Bottle Top wäre bei ihm, um ihm Halt zu geben. Während er auf die Ansammlung aschgrauer Gebäude im Süden blickte, fragte er sich, wie wohl sein Freund mit seinem neuen Leben zurechtkäme. Dann nahm er seinen Mut zusammen und ging auf den Klang zu.
Ein Trampelpfad schlängelte sich durch das Gras auf der anderen Straßenseite, und er folgte ihm – es war der Weg nach Black Mary’s Hole. Für einen Moment kamen ihm wieder Jonas’ nächtliche Schauergeschichten in den Sinn, und sein Herz schlug schneller. Schrecklicher noch als die Geschichten über Billy Shrike war die Legende von der Hexe Black Mary, die einst ihr Baby in den ausgetrockneten Brunnen geworfen hatte – die Wasserquelle, nach der der Weiler benannt war. Die langen Grashalme waren platt getreten, es sah aus, als hätte jemand etwas Großes, Schweres über die Wiese gezogen. Nesseln, die halb verborgen im Dickicht wucherten, stachen ihn mit ihren samtenen Fangzähnen.
Er kam zu einem Fluss. An dieser Stelle war er allerdings kaum mehr als ein Rinnsal, ein schmaler, von einer halb verfallenen Brücke überspannter Bach, dessen Wasser nach Fäulnis stank. Binsengewächse säumten das Ufer, Schwärme von Mücken tanzten in der Luft.
Von der anderen Seite kam wieder das Geräusch, lauter diesmal.
Kling-Klang-Klang.
Cirrus blieb stehen. Eine Reihe armseliger Hütten stand – wie Pilze aus dem Boden geschossen – am anderen Ufer. Ein kaltes Gefühl der Angst schnürte ihm die Kehle zu, und als er schluckte, sank es wie ein eisiger Kieselstein in seinen Magen. Dann holte er tief Luft und ging langsam über die Brücke. Die Bretter schwankten und wackelten bedenklich unter seinen Füßen.
Ein Stück weiter vorn ertönte wieder das Geräusch.
An den Hütten vorbei führte ein Weg zu einer kleinen Lichtung. Er folgte ihm, wobei er nervös von einer Seite zur andern blickte, um eine eventuelle Bewegung sofort zu bemerken. Die Hütten waren offenbar schon seit Langem verlassen, ihre Fenster nichts weiter als klaffende Löcher. Ein durchdringender teerartiger Geruch stieg Cirrus in die Nase.
Unmittelbar vor der Lichtung sah er einen leer stehenden Viehstall, ein halbkreisförmiges Steingebäude mit moosigen Wänden und einem zum Teil eingefallenen Dach. Das Hämmern kam von der anderen Stallseite her. Cirrus schlich näher heran und … blieb wie angewurzelt stehen.
Auf den Holzbalken des Gebäudes saßen scharenweise Krähen. Zwanzig oder dreißig von ihnen hockten dort zusammen wie Scharfrichter im schwarzen Gewand. Eine Weile wagte Cirrus nicht, sich zu bewegen, auch nicht zu atmen, sondern blieb wie angewachsen stehen, halb in der Erwartung, die Krähen würden sich jeden Moment in einer lärmenden Federflut auf ihn stürzen. Sie blieben jedoch reglos sitzen, beobachteten ihn nur mit ihren bösen Blicken. Schließlich drehten sie langsam ihre Köpfe zum Stall, wo sich etwas verborgen haben musste.
Mit kleinen zaghaften Schritten zwang sich Cirrus, näher heranzugehen.
Der Geruch nach Teer war hier noch stärker, und er meinte, einen glutroten Schimmer in der Luft wahrzunehmen. In gebückter Haltung schob er sich an der Stallwand entlang, bis er an ein kleines, zu den Wiesen hin gelegenes Fenster kam. Vorsichtig hob er den Kopf, spähte hindurch und spürte dabei die bedrohlich stille Gegenwart der Vögel über sich.
Im Stall, über einen großen Weidenkorb gebeugt, stand der Mann, den er früher schon gesehen hatte. Aus dem Korbinneren ragte eine hohe T-förmige Stange, an der er sich jetzt zu schaffen machte. Ein riesengroßes Stoffnetz hing über ihm an den Dachsparren, und fremdartige Instrumente baumelten an den Querbalken: ein Astrolabium, ein Kompass und sogar ein kleiner Anker. Überall im Stall lagen Reste von Tüchern verstreut – sie glichen sehr den Bettlaken, die
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