Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
gläsernen Tore, vor dem Bau des Pendulum Hauses, vor der Ernennung des ersten Zauberers, und sogar noch vor dem Kampf der Magier des Altertums gegen die Armeen der mächtigen Feenkönigin hatte es die Dark Street schon gegeben. In irgendeiner Form war sie immer da gewesen, eine Brücke zwischen der fantastischen und der gewöhnlichen Welt, zwischen Magie und Vernunft, zwischen dem Land der Feen und der Stadt, die niemals schläft.
Oona richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Schaufenster des Zauberladens und studierte ihr Spiegelbild auf der unebenen Glasfläche. Der Blick ihrer großen grünen Augen mit den dichten, geschwungenen Wimpern fiel auf ihr herzförmiges Gesicht und das graue, in der Taille gekrauste Kleid mit dem weiten Tellerrock. Ihr Onkel hatte recht. Was hatte sie, ein zierliches, ein Meter dreißig großes Mädchen, sich nur dabei gedacht, einen heimtückischen Irren wie Igregious Goodfellow, der den Schmuckladen der Horton Familie ausgeraubt hatte, zu verfolgen? Mit ihren zwölf Jahren war sie für die Dark-Street-Gesellschaft noch ein Kind, obwohl sie schon in drei Monaten Geburtstag hatte. Dreizehn war ein besonderes Alter für ein Mädchen, das in der Dark Street wohnte. In diesem Alter wurde sie eine junge Dame und viele Mädchen besuchten dann die Akademie für feine junge Ladys , eine Aussicht, die für Oona nichts Verlockendes hatte. Sie zog es vor, ihre unabhängigen Studien mit Deacon fortzuführen. In ihren Augen gab es in der Dark Street keinen besseren Lehrer als ihn.
Wie immer bekam sie beim Gedanken an ihren Geburtstag Schuldgefühle, eine Welle der Traurigkeit schien das Tageslicht zu trüben und die sanfte Brise in einen kühlen Windstoß zu verwandeln. Wie ein Geist schwebte die Erinnerung an das wunderschöne Gesicht ihrer Mutter durch ihre Gedanken – an jene großen grünen Augen, die Oonas Augen so ähnlich waren, an das fröhliche, strahlende Lächeln, das wie ein Sonnenstrahl war. Und ein anderes Gesicht tauchte vor Oonas innerem Auge auf, das von ihrer kleinen Schwester, die noch nicht einmal laufen konnte und auf dem Arm ihrer Mutter die kleinen Händchen zusammenklatschte. Das Bild hatte sich in Oonas Gedächtnis eingebrannt wie eine klaffende Narbe: ihre Mutter und das Baby unter einem riesigen Feigenbaum, dessen Blätter im Wind raschelten, während Zauberlichter um sie herumtanzten, schneller und schneller, und dann …
Hastig schob Oona den Gedanken beiseite. Sie schluckte den Kloß im Hals herunter und warf die Hände hoch. »Ich ziehe Wissenschaft vor, Deacon! Keine Zaubersprüche und Zauberstäbe oder magische Ringe. Ich will Fakten. Logik. Her mit verzwickten Rätseln … komplizierten Fragestellungen. Das ist etwas für mich.«
Ihr Tonfall war sehr ernst und ihr London-Town -Akzent wirkte gebildet und vornehm.
Deacon krallte sich an ihrer Schulter fest und spreizte seine kräftigen schwarzen Federn, als die beiden sich die Dark Street hinauf, in Richtung Pendulum Haus in Bewegung setzten. Pferdekutschen rumpelten die breite Straße hinauf und hinunter, und auf den Gehsteigen drängten sich Fußgänger, die allesamt in Eile schienen und kaum Notiz nahmen von dem kleinen Mädchen mit den abgehackten Haaren und dem Raben auf der Schulter. Natürlich wussten die meisten, wer sie war. Schließlich war sie die Nichte des Zauberers. Sein Lehrmädchen. Vor allem jedoch war sie bekannt als sogenannte natürliche Magierin: eine Laune der Natur, so selten, wie sie vielleicht nur einmal in jedem Jahrhundert vorkam.
»Du bist etwas ganz Besonderes, Oona«, hatte der Zauberer ihr vor fast fünf Jahren, am ersten Tag ihrer Ausbildung, gesagt. Ein paar Monate nach ihrem achten Geburtstag hatte sie dem graubärtigen Mann, dem älteren Bruder ihres Vaters, den sie so sehr verehrte, gebannt zugehört. »Ich selbst bin ein sogenannter gelernter Magier. Wie fast alle Magier, die es jemals gegeben hat. Ich musste mir die Magie durch jahrzehntelanges hartes Studium und Training aneignen. Jemand wie ich muss die Magie zwingen, seinen Willen auszuführen. Aber ein natürlicher Magier so wie du, Oona, ist ein Mensch, der mit den außergewöhnlichen magischen Kräften der Feen geboren wird. Niemand weiß genau warum. Manche Leute glauben, dass natürliche Magier Feenblut in den Adern haben, aber soweit ich weiß, ist das nur ein Gerücht. Anders als Feen, die mit den Instinkten und dem Wissen geboren werden, ihre atemberaubende Magie zu kontrollieren, müssen natürliche
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