Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Werk. Clara nahm ihr Gebetbuch vom Frisiertisch und öffnete das Kapitel mit Morgengebeten. Sie drückte die Knie aneinander und hielt den Kopf still, während Agnes an den Knoten in den Haaren zerrte. Einmal hatte Clara die Zofe ihrer Mutter sagen hören: »Manch eine erwachsene Dame bringt es nicht fertig, so stillzuhalten wie Miss Clara. Miss Clara ist unerschütterlich wie ein Fels.«
Das gefiel Clara. Meist bekam sie beim Lauschen nur zu hören, wie verwöhnt sie war. Wahrscheinlich stimmte das ja auch. Sie bereitete den Dienstboten zusätzliche Arbeit und ihre Eltern verhätschelten sie, ständig um ihre Gesundheit besorgt. Ihr Vater inspizierte einmal pro Woche das Kinderzimmer und suchte mithilfe seines Taschentuchs nach Zugluft. Selbst im Sommer musste im Kamin ein Feuer brennen. Claras Geburtstagskleid war vom besten Damenschneider Londons angefertigt worden und sie wusste, dass viele teure Geschenke auf sie warteten.
Allerdings hatte Clara nicht zu hoffen gewagt, dass ihr Vater tatsächlich Professor Grisini erlauben würde, auf ihrer Feier eine Vorstellung zu geben. Seit Clara zum ersten Mal den Wagen des Puppentheaters gesehen hatte – und die Kinder, die die Fäden der Marionetten bedienten –, hatte sie kaum noch an etwas anderes gedacht. Sie hatte die Puppenbühne zufällig im Hyde Park entdeckt. Es war ein trister Nachmittag gewesen, grau und frostig, mit schweren Nebelschwaden. Ihre Gouvernante, Miss Cameron, war stehen geblieben, um mit einem Kindermädchen von der gegenüberliegenden Seite des Platzes zu plaudern. Die beiden Frauen tratschten bestimmt eine halbe Stunde lang. Die Unterhaltung war so langweilig, dass Clara aufgab, ihr zu folgen. Sie wartete stoisch, bemüht, nicht herumzuzappeln. Da fiel ihr plötzlich der leuchtend rote Wagen im Nebel auf.
Sie bat Miss Cameron, sich das Marionettentheater ansehen zu dürfen, und erhielt die Erlaubnis. Schnell rannte sie zu der kleinen Bühne, wo sie feststellen musste, dass sie sich auf der falschen Seite des Wagens befand.
Doch die Vorstellung war hinter der Bühne sogar noch spannender. Sie sah, was niemand sehen sollte. Clara studierte die beiden Gestelle, an denen die Puppen hingen, und den schwarzen Vorhang, der die Köpfe der Puppenspieler vor den Blicken der Zuschauer verbarg. Der Lehrjunge des Meisters war so klein, dass er auf einer Holzkiste stehen musste. Er war mager und seine Hose zerschlissen, aber er stellte sich ebenso geschickt an wie der ältere Mann. Selbst auf der falschen Seite der Bühne erkannte Clara sein Talent.
Das dritte Mitglied der Truppe war ein Mädchen von vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahren. Sie war die Einzige, deren Gesicht Clara sehen konnte – ein interessantes Gesicht: blass, spitz zulaufend und wehmütig. Sie hatte langes, rotes Haar und bewegte sich mit der Anmut einer Tänzerin. Sie lieferte die Musik zur Vorstellung, indem sie zwischen einer Flöte, einem Tamburin und einer kleinen Geige wechselte. Ab und zu huschte sie nach oben hinter das Bühnenbild und zog ebenfalls die Fäden einer Marionette. Die drei arbeiteten reibungslos zusammen. Clara war fasziniert. Sie überlegte, wie es wohl wäre, die Tage in den Londoner Straßen und Parks zu verbringen, statt im Unterricht zu pauken.
Bis zum Schluss der Darbietung beobachtete sie die Puppenspieler. Das Publikum applaudierte, und das rothaarige Mädchen griff nach einem bunt bemalten Kästchen, um bei den Zuschauern das Geld einzusammeln. Clara kramte in ihrem Geldbeutel, bis sie eine Half-Crown-Münze gefunden hatte. Sie wünschte, es wäre ein goldener Sovereign gewesen. Die Puppenspielerin bedankte sich mit einem kleinen Knicks. Ihre Blicke trafen sich, und das Mädchen lächelte.
Es war ein außerordentlich freundliches Lächeln und es berührte Claras Herz. Sie konnte es kaum glauben, aber dieses Mädchen, das anmutig und klug und älter war als sie selbst, schien sie zu mögen. Clara vermutete, dass es unter den siebzehn Kindern, die zu ihrer Geburtstagsfeier kommen würden, kein einziges gab, von dem sie wirklich gemocht wurde. Es waren die Kinder von Freunden ihrer Eltern, die ebenfalls am Chester Square lebten. Clara fand sie langweilig und sie argwöhnte, dass die anderen sie bemitleideten und für merkwürdig hielten. Aber das rothaarige Mädchen mochte sie! Da war sich Clara sicher.
Ihr blieb kaum die Zeit, zu sagen, wie sehr ihr die Vorstellung gefallen hatte, als der Puppenmeister herangeschlichen kam. Er verneigte sich vor
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