Clara und die Magie des Puppenmeisters (German Edition)
Himmel war weiß, nicht grau. Ja, zwischen zwei Wolken war sogar ein Fetzen Blau auszumachen. Es war ein selten klarer Tag. Professor Grisini würde ganz sicher kommen.
Clara ließ die Vorhänge wieder zusammenfallen und wandte sich vom Fenster ab. Sie schlich am Puppenhaus ihrer Schwester und dem Schaukelpferd ihres Bruders vorbei, Dinge, die sie nicht anrühren durfte. Neben dem Spielzeugschrank hing ihr Geburtstagskleid. Es war in ein altes Laken gehüllt, damit es sauber blieb, aber sie konnte seine Form trotzdem erkennen, die Puffärmel und den ausladenden Rock. Es war ein schönes Kleid, allerdings eins für Kinder. Nächstes Jahr, nach ihrem dreizehnten Geburtstag, würde sie längere Röcke und ein Fischbeinkorsett tragen müssen – keine freudige Aussicht. Clara empfand ihre jetzigen Kleider schon als einengend genug.
Sie hörte Schritte. Jemand kam die Hintertreppe herauf. Es war Agnes, das Hausmädchen. Wie der Blitz flitzte Clara zurück ins Bett. Sie zog die Decken, bis zu ihren Schultern hoch und schloss die Augen.
Die Tür ging auf. Agnes stellte eine Kanne mit heißem Wasser auf dem Waschtisch ab und machte sich daran, das Feuer im Kamin anzuschüren. »Aufwachen, Miss Clara!«
Clara richtete sich blinzelnd auf. Warum sie unbedingt verheimlichen wollte, dass sie bereits wach war, hätte sie nicht erklären können. Sie hatte einen angeborenen, chronischen Hang zu Heimlichkeiten. Sie legte die Hand vor den Mund, als wollte sie ein Gähnen unterdrücken. »Guten Morgen, Agnes.«
»Guten Morgen, Miss.«
»Agnes, ich bin zwölf!«, sprudelte sie freudig heraus. »Heute werde ich zwölf!«
Agnes wusste das. Niemand im Haushalt der Wintermutes hätte vergessen können, dass der 6. November Claras Geburtstag war. Das Personal hatte das Haus vom Keller bis zum Dach geputzt und das Esszimmer mit weißen Bändern und immergrünen Zweigen geschmückt. Siebzehn Kinder waren zu Claras Feier eingeladen und man erwartete sie in Begleitung ihrer Mütter. Es würde eine üppige Tafel zur Teestunde geben, mit Sandwiches, Eiscreme und einer vierschichtigen Torte.
»Alles Gute zum Geburtstag, Miss.« Agnes zupfte an einem Zipfel der Steppdecke. »Und jetzt stehen Sie auf. Sie können nicht den ganzen Tag im Bett herumliegen.«
Das hatte Clara auch gar nicht vor. Im Gegenteil, sie konnte es nicht erwarten, dass der Tag seinen Lauf nahm. Sie schlug die Decke zurück, während Agnes vor dem Bett kniete und ihr die Pantoffeln hinhielt. Clara schlüpfte mit den Füßen hinein und hob die Arme, damit Agnes ihr den Morgenmantel überziehen konnte. Während das Hausmädchen anfing, das Bett zu machen, begab sich Clara zum Waschtisch, wo sie sich sorgfältig das Gesicht wusch und die Zähne putzte. Dann begutachtete sie ihre Fingernägel, um sicherzugehen, dass sie über Nacht nicht schmutzig geworden waren. »Ist schönes Wetter, Agnes?«
Agnes wandte sich vom Bett ab, um die Vorhänge aufzuziehen. »Schön genug, damit Ihr Fest stattfinden kann. Ihr Mr Wie-hieß-er-doch-gleich wird mit seinen Puppen kommen.«
»Grisini«, sagte Clara eifrig. »Der phänomenale Professor Grisini und seine venezianischen fantoccini .« Sie hatte seinen Handzettel auswendig gelernt, als sie vor drei Wochen das erste Mal eine Vorstellung gesehen hatte.
Agnes machte ein Geräusch, das wie mffmp klang. Früher war sie das Kindermädchen im Hause Wintermute gewesen und deshalb glaubte sie, dass ihr gewisse Sonderrechte zustanden. Unter anderem das Privileg, solche Geräusche von sich zu geben, wenn sie der Meinung war, Clara würde zu sehr verwöhnt.
»Ich weiß nicht, was Sie mit den ausländischen Puppen wollen, Miss Clara. Ein englisches Kaspertheater mit Punch und Judy tut es schließlich für die meisten Kinder.«
Clara machte zwar eine kleinlaute Miene, aber sie widersprach: »Die fantoccini sind ganz anders als Punch und Judy, Agnes. Du wirst schon sehen, wenn Professor Grisini später seine Vorstellung gibt. Die Puppen hängen an Fäden, nur dass man die Fäden nicht sieht. Das ist wie Zauberei.«
Agnes zupfte noch ein letztes Mal an den Vorhängen. Clara streckte dem Mädchen Hilfe suchend den Kamm hin. So wohlerzogen Clara sich benahm, so ungezähmt war ihr Haar, und nur Agnes konnte es bändigen. Mit Geschick und Geduld gelang es ihr immer wieder, die dunkle Lockenmähne in der Mitte zu scheiteln und in zwanzig ordentliche Korkenzieherlocken zu verwandeln, zehn zu jeder Seite.
Agnes griff nach dem Kamm und machte sich ans
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