Clark Mary Higgins
Lambston anhatte. Die Autopsie ergab, daß das Opfer ihren Strumpf zerriß, als
sie ihn anzog. Als ihr die Strumpfhose über den rechten Fuß
gezogen wurde, blieb sie am Nagel des großen Zehs hängen, so
daß vorne auf der ganzen Länge eine breite Laufmasche entstand. Miss Kearney sagt, daß Ethel Lambston niemals so ausgegangen wäre. Ich halte viel von Miss Kearneys Meinung. Eine
Frau, die Wert auf ihr Aussehen legt, würde so nicht aus dem
Haus gehen, wenn sie sich in zehn Sekunden ein anderes Paar
Strümpfe anziehen könnte.«
»Haben Sie den Autopsiebericht und die Fotos der Leiche bei
sich?« fragte Herb.
»Ja, Sir.«
Herb studierte die vorgelegten Bilder mit klinischer Objektivität. Das erste Foto zeigte die Hand, die aus der Erde ragte; ein
weiteres die in der Totenstarre zusammengekrümmte Leiche,
nachdem man sie aus der höhlenartigen Vertiefung herausgeholt
hatte. Dann kamen die Vergrößerungen von Ethels Kiefer, der
dunkelrot und schwarz und blau unterlaufen war. Dann der blutige Schnitt in ihrer Backe.
Herb nahm sich ein anderes Foto vor. Es zeigte nur die Halspartie zwischen Ethels Kinn und dem unteren Teil der Kehle.
Beim Anblick der häßlichen, klaffenden Wunde zuckte Herb
zusammen. Trotz der vielen Jahre, die er nun schon bei der Polizei war, gingen ihm die schrecklichen Beweise der Grausamkeit,
die Menschen einander antaten, noch immer unter die Haut.
Es war aber noch mehr.
Herb hielt die Aufnahme krampfhaft in der Hand. Die Art,
wie die Kehle aufgeschlitzt war. Ein langer, senkrechter Schnitt,
dann eine gerade Linie vom Halsansatz bis zum linken Ohr.
Denselben Schnitt hatte er schon einmal gesehen. Er griff nach
dem Telefon.
Der Schock war seiner Stimme nicht anzumerken, als Commissioner Schwartz in ruhigem Ton um eine bestimmte Akte aus
dem Polizeiarchiv bat.
Neeve merkte rasch, daß sie nicht in der richtigen Stimmung
war, um Freizeitkleider zu bestellen. Ihr erster Besuch war bei
»Gardner Separates«. Die Shorts und T-Shirts mit den farblich
kontrastierenden losen Jacken waren amüsant und tadellos geschnitten. Sie stellte sich vor, daß sie Anfang Juni damit eine
Strandszene im Schaufenster dekorieren könnte. Aber nachdem
sie sich für diese Sachen entschieden hatte, war sie nicht mehr
imstande, sich den Rest der Kollektion noch anzusehen. Sie entschuldigte sich mit Zeitknappheit und verließ eilig den übereifrigen Verkäufer, der ihr unbedingt noch die neuen Badeanzüge
zeigen wollte. »Sie werden ausflippen, so toll sind sie!«
Auf der Straße zögerte sie einen Augenblick. Am liebsten
würde ich jetzt nach Hause gehen, dachte sie. Ich brauche einen
Moment Ruhe. Sie spürte einen Anflug von Kopfweh, einen
leichten Druck, als läge ein Reifen um ihre Stirn. Ich bekomme
doch sonst nie Kopfschmerzen, ermahnte sie sich selber, während sie unschlüssig vor dem Gebäude stand.
Sie konnte noch nicht nach Hause gehen. Im Weggehen hatte
Mrs. Poth sie gebeten, nach einem einfachen weißen Kleid für
eine Hochzeit im engsten Familienkreis Ausschau zu halten.
»Nichts zu Bräutliches«, hatte sie erklärt. »Meine Tochter hat
schon zwei Verlobungen gelöst. Der Pfarrer notiert ihre Hochzeitsdaten nur mit Bleistift. Aber diesmal kommt es vielleicht
wirklich dazu.«
Es gab verschiedene Häuser, bei denen Neeve sich nach dem
Kleid umsehen konnte. Sie wollte sich nach rechts wenden,
hielt dann aber ein. Vielleicht war es besser, zuerst zu der anderen Firma zu gehen. Bei ihrer Kehrtwendung fiel ihr Blick
auf die andere Straßenseite. Ein Mann in einem grauen Trainingsanzug und mit einem braunen Umschlag unter dem Arm,
ein Mann mit einer großen dunklen Brille und einer verrückten
Punkerfrisur kam durch das Verkehrsgewühl auf sie zugelaufen. Einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Neeve glaubte,
eine Alarmglocke läuten zu hören. Der Druck um ihre Stirn
wurde stärker. Ein Lastwagen setzte sich in Bewegung und
verdeckte den Blick auf den Boten. Neeve ärgerte sich plötzlich über ihre Unentschlossenheit und ging resolut die Straße
hinunter.
Es war halb fünf. Die tiefstehende Sonne ließ die schrägen
Schatten immer länger werden. Neeve betete im stillen, daß sie
bei der ersten Firma ein geeignetes Kleid finden möge. Dann
dachte sie: Ich lasse es bleiben und gehe gleich zu Sal.
Sie hatte es aufgegeben, Myles davon überzeugen zu wollen,
daß es wichtig war, welche Bluse Ethel bei ihrem Tod getragen
hatte. Aber Sal würde es verstehen.
Jack
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