Clark Mary Higgins
das verrückteste ist, daß Sie der zweite sind, der mich deswegen
in den letzten vierzehn Tagen anruft.«
»Wissen Sie noch, wer der andere war?« fragte Jack, der die
Antwort bereits kannte.
»Natürlich. Irgendeine Journalistin. Edith… nein, Ethel. Ethel
Lambston.«
Myles hatte einen unerwartet geschäftigen Tag. Um zehn Uhr
klingelte das Telefon. Ob er mittags Zeit für eine Besprechung
wegen des angebotenen Postens in Washington hätte. Er verabredete sich zum Lunch im Hotel Plaza. Am späteren Nachmittag
ging er in seinen Fitneßclub, um zu schwimmen und sich massieren zu lassen, und er freute sich insgeheim, als der Masseur
ihm bestätigte, daß er wieder blendend in Form sei.
Myles wußte, daß sein Gesicht die fürchterliche Blässe verloren hatte. Aber es war nicht nur die äußere Erscheinung. Er fühlte sich auch glücklich. Ich bin zwar achtundsechzig, dachte er,
während er im Garderobenraum seine Krawatte band, aber ich
halte mich gut.
Wenigstens in meinen Augen halte ich mich gut, verbesserte
er sich etwas reumütig, als er auf den Lift wartete. Eine Frau
sieht das vielleicht anders. Oder genauer gesagt, gab er sich selber zu, als er auf die Straße trat und sich auf den Weg zur Fifth
Avenue und zum Plaza machte, sieht Kitty Conway mich vielleicht in etwas weniger günstigem Licht.
Das Mittagessen mit dem hohen Regierungsbeamten hatte den
ganz bestimmten Zweck, Myles zu einer Antwort zu bewegen.
War er bereit, die Leitung der Drogenfahndungsstelle zu übernehmen? Er versprach, binnen achtundvierzig Stunden eine Entscheidung zu treffen.
»Wir hoffen, daß sie positiv ausfallen wird«, sagte der Mann
aus Washington.
Kaum war er wieder in seiner Wohnung, als sein Wohlbefinden plötzlich schwand. Er hatte im Arbeitszimmer ein Fenster offengelassen. Als er den Raum betrat, flog eine Taube
herein, beschrieb einen Kreis, flatterte einen Moment, setzte
sich dann aufs Fensterbrett und flog von dort hinaus zum
Hudson River. »Eine Taube im Haus ist ein Zeichen des Todes.« Die Worte seiner Mutter klangen ihm eindringlich in
den Ohren.
Verrückter, abergläubischer Unsinn, dachte Myles ärgerlich,
aber er wurde das Gefühl drohenden Unheils nicht ganz los. Er
hatte auf einmal das Bedürfnis, mit Neeve zu sprechen. Rasch
wählte er die Nummer des Geschäfts.
Eugenia nahm das Telefon ab.
»Sie ist gerade zur Seventh Avenue gegangen, Commissioner.
Ich kann versuchen, sie dort irgendwo zu erreichen.«
»Nein, es ist nicht so wichtig«, sagte Myles, »aber wenn sie
sich zufällig meldet, sagen Sie ihr, daß sie zurückrufen soll.«
Er hatte kaum den Hörer aufgelegt, als das Telefon läutete. Es
war Sal, der ihm bestätigte, daß auch er wegen Neeve beunruhigt war.
Die nächste halbe Stunde kämpfte Myles mit sich, ob er Herb
Schwartz anrufen sollte. Aber wozu? Neeve würde gar nicht als
Zeugin gegen Steuber auftreten müssen. Sie hatte ja nur den
Anstoß für die Untersuchung gegen ihn gegeben. Allerdings
wäre die Beschlagnahme von Drogen im Wert von hundert Millionen Dollar Grund genug gewesen, daß Steuber und seine
Komplizen Rache schworen.
Vielleicht kann ich Neeve überreden, mit mir nach Washington zu ziehen, dachte Myles und verwarf die Idee gleich als lächerlich. Neeve hatte ihr Leben, ihr Geschäft in New York. Und
falls er ein guter Beobachter war, hatte sie jetzt Jack Campbell.
Dann kann ich Washington vergessen, entschied Myles, während er im Zimmer hin und her lief. Ich muß hierbleiben und sie
schützen. Ob sie es wollte oder nicht, er würde einen Leibwächter für sie engagieren.
Er erwartete Kitty Conway gegen sechs Uhr. Um Viertel nach
fünf ging er in sein Schlafzimmer, zog sich aus, duschte und
wählte dann sorgfältig den Anzug, das Hemd und die Krawatte
aus, die er zum Abendessen anziehen wollte. Um zwanzig vor
sechs war er schon bereit.
Vor längerer Zeit hatte er entdeckt, daß es in einer unerträglich schwierigen Situation beruhigend auf ihn wirkte, wenn er
etwas mit den Händen machte. Er konnte während der Wartezeit
doch versuchen, den Griff, der sich vor ein paar Tagen von der
Kaffeekanne gelöst hatte, wieder zu befestigen.
Erneut betrachtete er sich mit einem kritischen Blick im Spiegel. Das Haar war jetzt schlohweiß, aber immer noch voll. Keine
Glatzen in seiner Familie. Aber was sollte es ausmachen? Warum sollte eine sehr hübsche, zehn Jahre jüngere Frau sich für
einen ehemaligen Polizeichef mit einem angeschlagenen Herzen
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