Clark Mary Higgins
Etiketten rausgerissen, jemand vermutlich ihren Koffer und ihre
Handtasche weggeworfen.«
Durch halb geschlossene, aber wachsame Augen gab O’Brien
sein Einverständnis zu erkennen.
»Jetzt kommt der springende Punkt.« Gomez hielt den Augenblick für gekommen, seine Theorie zu enthüllen. »Warum
sollte Seamus die Leiche verstecken? Es war ein reiner Zufall,
daß sie so rasch entdeckt wurde. Er hätte weiterhin die Alimente
an ihren Buchhalter überweisen müssen. Aber was für einen
Grund hätte der Neffe gehabt, die Leiche zu verstecken und die
Firmenetiketten aus den Kleidern zu trennen? Wenn Ethel unentdeckt verwest wäre, hätte er sieben Jahre warten müssen, um
an ihre Piepen heranzukommen, und obendrein noch saftige
Anwaltshonorare zu berappen gehabt. Wenn einer von den beiden es gewesen ist, dann hätte er doch gewollt, daß die Leiche
gefunden wird. Oder?«
O’Brien hob die Hand. »Nun statte die beiden nicht auch noch
mit Intelligenz aus! Wir nehmen sie weiterhin in die Zange, setzen ihnen zu, und früher oder später wird dann einer von ihnen
kommen und sagen: ›Ich wollte es doch gar nicht tun.‹ Ich wette
immer noch, daß es der Ehemann war. Willst du fünf Dollar auf
den Neffen setzen?«
Die Wahl wurde Gomez erspart, da das Telefon läutete. Der
Commissioner wollte beide Inspektoren sofort in seinem Büro
sprechen.
Während sie mit dem Streifenwagen ins Stadtzentrum unterwegs
waren, versuchten O’Brien und Gomez das, was sie bisher unternommen hatten, zu beurteilen. Der Polizeichef hatte sich persönlich in die Sache eingeschaltet. Hatten sie irgendeine Dummheit
gemacht? Es war Viertel nach vier, als sie sein Büro betraten.
Commissioner Schwartz hörte dem Gang der Diskussion aufmerksam zu. Inspektor O’Brien war absolut dagegen, Seamus
Lambston sofort zu verhaften. »Sir«, sagte er verteidigend, »ich
bin von Anfang an der Meinung gewesen, daß der Ex-Mann die
Tat begangen hat. Aber warten Sie noch, und geben Sie mir drei
Tage Zeit, um den Beweis zu erbringen.«
Herb war drauf und dran, O’Briens Bitte nachzugeben, als
seine Sekretärin hereinkam. In aller Eile entschuldigte er sich
und ging hinaus ins Vorzimmer. Nach fünf Minuten kehrte er
zurück. »Man hat mir gerade mitgeteilt«, sagte er ruhig, »daß
Gordon Steuber wahrscheinlich einen Mordkontrakt auf Neeve
Kearney ausgeschrieben hat. Wir werden ihn sofort verhören.
Neeve hatte auf seine illegalen Nähateliers aufmerksam gemacht, was die Untersuchungen auslöste, die dann dazu führten,
daß das Drogengeschäft aufflog. Damit wäre ein Grund gegeben. Aber Ethel Lambston kann ebenfalls Wind von Steubers
Geschäften gekriegt haben. Die Wahrscheinlichkeit ist also
groß, daß Steuber etwas mit ihrer Ermordung zu tun haben
könnte. Ich möchte daher den Ex-Mann entweder festnageln
oder ausschalten. Akzeptieren Sie den Vorschlag des Anwalts.
Sehen Sie zu, daß der Test mit dem Lügendetektor noch heute
vorgenommen wird.«
»Aber…« O’Brien sah den Ausdruck im Gesicht des Commissioners und beendete den Satz nicht.
Eine Stunde später wurden Gordon Steuber, der die Kaution von
zehn Millionen Dollar noch nicht aufgebracht hatte, und Seamus
Lambston in zwei verschiedenen Verhörzimmern vernommen.
Steuber hatte seinen Anwalt neben sich, während Inspektor
O’Briens Fragen auf ihn niederprasselten.
»Wissen Sie etwas von einem Kontrakt, der auf Neeve Kearney ausgeschrieben wurde?«
Gordon Steuber, trotz der in der Wartezelle verbrachten Stunden noch immer tadellos aussehend, versuchte, den Ernst der
Lage abzuschätzen. Er brach in schallendes Lachen aus. »Sie
machen wohl einen Witz! Aber die Idee wäre nicht schlecht.«
Im Nebenzimmer saß Seamus und war zum zweitenmal an
diesem Tag an einen Lügendetektor angeschlossen. Er sagte sich
immer wieder, daß dies dasselbe sei wie beim ersten Test, den er
bestanden hatte. Aber es war nicht dasselbe. Die harten, unfreundlichen Gesichter der Kriminalbeamten, die bedrückende
Enge des Raums, die Gewißheit, daß sie ihn für Ethels Mörder
hielten, jagten ihm Angst ein. Die Ermutigungen seines Anwalts, Peter Kennedy, konnten daran nichts ändern. Er wußte,
daß er einen Fehler gemacht hatte, als er sich mit dem Test einverstanden erklärte.
Seamus war kaum imstande, auch nur die einfachsten Fragen
zu beantworten. Als er zur letzten Begegnung mit Ethel kam,
war ihm, als stünde er wieder vor ihr, sähe ihr spöttisches Gesicht, wüßte, daß sie
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