Claustria (German Edition)
ihm, manchmal jedoch bricht er plötzlich auf. Dann flüchtet er aus dem Heim, ohne seinen Vater zu umarmen.
„Keine Sorge, ich bleibe bis zum Abend.“
„Ich glaube, sie liebt mich nicht.“
Diese Leier stimmt der Alte gern an. Die kleine Freude, das mitleiderregende Opfer zu mimen, zu dem der Schuldige nach einem Verbrechen geworden zu sein hofft.
„Sie liebt mich nicht.“
Er drückt Romans Handgelenk. Er dreht den Kopf zu ihm.
„Erinnerst du dich – als du klein warst?“
Der Greis berauscht sich an den Kellererinnerungen. Das Glück in der Gefangenschaft, wie das Universum in einer Glasglocke. Ein einziger Keller auf der ganzen Welt, die kleinen Begebenheiten des Alltags und das Fernsehen, das vielleicht tagtäglich die Geschichte einer untergegangenen Zivilisation erzählt. Die Sender, die auf den Höhen überlebt haben, strahlen ins Leere hinein Nachrichten von damals aus.
„Ich habe bunte Papiertücher mitgebracht.“
Es gab grüne, rosarote und zitronengelbe. Roman zog sie laut lachend aus der Schachtel. Er warf sie in die Luft und rannte ihnen hinterher, wenn sie davonschwebten.
„Wie sehr du dich damit amüsieren konntest!“
Roman geht zum Fenster, um Atem zu holen. Wenn er sich erinnert, fehlt ihm die Luft. Er blickt in die Ferne. Er fühlt sich schuldig, weil er im Keller so glücklich war. Und weil er seinen Vater liebt.
Als Roman der Sprengung des Hauses in Amstetten beiwohnte, war seine Mutter schon zwei Jahre tot, sie starb in Zürich. Um sich dem Druck der österreichischen Steuerbehörden zu entziehen, wanderte sie nach dem Tod von Petra und Martin, die das Zwischengeschoss mit den ständig geschlossenen Fensterläden im Salzburger Haus nie verlassen hatten, in die Schweiz aus.
Mit neunundsiebzig Jahren hatte die Alzheimerkrankheit sich ihrer erbarmt, mit zweiundachtzig waren die letzten Erinnerungen an den Keller ausgelöscht. Eine späte Erlösung, aber Roman hatte festgestellt, dass ihr sorgenvoller Blick langsam verschwand. Ein Keller, aus dem sie sich nicht befreien konnte, solange er in ihrer Erinnerung weiterexistierte. Ein Keller, dem man nur entkommen konnte, wenn man nie darin gelebt hatte. Eine Lungenentzündung hatte sie zwei Tage vor ihrem siebenundachtzigsten Geburtstag hinweggerafft.
Sie hatte oft gesagt, dass sie auf keinen Fall in einem Sarg eingeschlossen enden will. Dann hatte sie einen tiefen Zug von ihrer Zigarette genommen und ein Lächeln angedeutet. Roman hatte sie einäschern lassen. Die Urne hatte er ins Schließfach ihrer Bank neben die Goldbarren aus seiner Erbschaft gestellt. Edelmetalle, Wohnungen in Berlin und Basel, Wertpapiere, die von einer Handelsbank verwaltet wurden.
Die Wohnung in Zürich blieb, wie sie war. Die Putzfrau kam weiterhin dreimal die Woche und saugte durch. Roman hatte sich nicht getraut, ihr zu kündigen.
Die Sprengung des Hauses in Amstetten bereitete seinen Beklemmungen ein Ende. Die Erinnerungen an dort unten sind verdorrt, kleine Dinge, die in seinem Gedächtnis verkümmert sind. Er fand seine Jugend wieder, als wären die Jahre zusammen mit den Mauern eingestürzt.
Die Gegenwart hatte gewonnen. Befreit von Vergangenheit und Zukunft war Unbeschwertheit möglich. Er erwartete von seiner Existenz nichts mehr als die Befriedigung, noch am Leben zu sein. Unbeirrt ging er seinen Weg weitab von ehelicher Bindung, Liebe, Freundschaften und Enttäuschungen.
Langsam spürte er, wie das Glück ihn überkam. Die Belohnung dafür, dass er nicht aufgegeben, dass er erhobenen Hauptes gelitten, nicht der Versuchung nachgegeben hatte, abzustürzen, sich umzubringen, dahinzusiechen.
In Wien führte er das Leben eines alten, dicken, lasterhaften Jugendlichen. Friedliche Tage mit Videospielen, am Fenster das Leben vorbeiziehen sehen wie einen Dokumentarfilm über die Menschheit, er ernährte sich von Wurstwaren und Cornflakes, von Zeit zu Zeit ging er aus dem Haus, um einzukaufen, wenn seine Haushälterin frei hatte.
Ein Tod im Schlaf im anbrechenden nächsten Jahrhundert nach Jahrzehnten in dieser Absteige voller Joysticks, Spielekonsolen, alter Flipperautomaten und Plüschfiguren so groß wie Bären. Eine Unzahl Zimmer eines verwöhnten Kindes, in denen Roman am Ende seines Lebens schwelgte wie ein dickes, runzliges Baby, das man in einem Spielwarengeschäft losgelassen hatte.
Von dem Kellervölkchen wird nur Roman gerettet worden sein.
Fritzl wurde auf den Namen Josef getauft wie sein Vater. So nannte er auch das sechste Kind aus
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