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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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bis sie die hundertsechsundzwanzig unebenen Stufen der ,,Todesstiege“ vom Steinbruch zu den Baracken hinaufsteigen darf.
    Es dauert nicht lange, und Annette bekommt eine Arbeit in den vier Krematorien zugewiesen, in denen die Leichen der an Erschöpfung, an den Schlägen, den Hundebissen, den Kugeln der SS – die sich sonntags mit Menschenjagd amüsieren – gestorbenen Gefangenen verbrannt werden.
    Manche kommen inmitten der Karrenladungen voller Toter noch lebend an. Man rüstet Annette mit einem Knüppel aus, damit sie deren Klagen ersticken kann. Oft sind sie kaum hörbar, außerdem sind es zu viele, die jammern. In den Flammen verstummen sie. Im Februar 1943 wird Annette entlassen. Barfuß läuft sie die dreißig Kilometer nach Amstetten durch den Schnee.
    Eines Morgens im März 1943 hält ein Gendarm auf dem Motorrad vor dem Haus. Aus dem Beiwagen hebt er Josef, von dem man nur den nervösen Blick unter der Plane sah. Der Gendarm klopft an die Tür. Nach einigem Hin und Her nimmt die gereizte Mutter schließlich die Lieferung in Empfang. Ein anhängliches Päckchen, das ihr um den Hals fallen will und dessen sie sich mit einer Ohrfeige entledigt.
    „Den da hatte ich vergessen.“
    Sie glaubte ihn schon ein für alle Mal im Reich verschollen, in dem alles drunter und drüber ging, nachdem die Ostfront jeden Tag weiter zurückwich. Sie hatte ihn immer misshandelt, ihn auf den Boden geschleudert, ihn mit Füßen getreten. Damit wird sie bis in sein Jugendalter weitermachen. Eine schwer auszumerzende Erziehungsmethode in Österreich. Noch vor Kurzem sah man nicht selten Eltern in aller Öffentlichkeit ein ungehorsames Kind auf den Boden werfen und ihm unter den gleichgültigen Augen aller anderen hart zusetzen.
    Fritzl rächte sich später, indem er seine Mutter einundzwanzig Jahre lang im Dachgeschoss einsperrte, dessen Fenster er mit Hohlblocksteinen zugemauert hatte. Nur dreimal pro Woche betrat er die Kammer, gab Suppe und hartes Brot in die Wanne, die ihr Futtertrog war. Mitten im Raum hatte er eine Toilette installiert, damit ihm die Mühsal erspart blieb, ihre Exkremente zu beseitigen.

Fritzl mochte das Gefängnis nicht. 1967 war er wegen Vergewaltigung verurteilt worden und hatte achtzehn Monate im Zuchthaus verbracht. An die fehlende Freiheit hatte er eine schlechte Erinnerung, an die barschen Wärter und die frustrierende Masturbation, die er hinter der Trennwand in den Latrinen praktizierte, um sich nicht die Predigten des Pastors anhören zu müssen, eines Kindesmörders, mit dem er die Zelle teilte.
    Mit einunddreißig Jahren verließ er Amstetten und arbeitete in einem Linzer Stahlkonzern. In Abendkursen bildete er sich an der Höheren Technischen Lehranstalt zum Ingenieur weiter. Angelika war gerade geboren, er ließ sie zusammen mit seinen beiden ältesten Kindern bei seiner Frau. Anneliese musste auch den Kerkermeister für ihre Schwiegermutter spielen.
    Zu Beginn ihrer Ehe wohnten sie drei Jahre in einem unbequemen Zimmer außerhalb der Stadt. Das Fenster ging auf die aufgelassenen Steinbrüche, in denen die Bewohner während der Bombardements Schutz gefunden hatten. Fritzl stand oft lange am Fenster und starrte hinaus.
    Er erinnerte sich an den Bombenalarm, den Lehrer, der den Unterricht unterbrochen und sie in Zweierreihen zum Steinbruch geführt hatte. Trotz der Explosionen, bei denen der Fels zitterte und bröckelte, unterrichtete er weiter im Dunkeln. Fritzl erinnerte sich, zusammen mit seinen Schulkameraden Gedichte von Goethe und Nikolaus Lenau deklamiert zu haben – ein heute vergessener großer Lyriker.
    Bis zur Entdeckung des Kellers ging Fritzl jedes Jahr zum Klassentreffen. Auf dem letzten Klassenfoto, aufgenommen im Oktober 2007, lächelt er breit, der alterslose Lehrer posiert stolz inmitten seiner ehemaligen Schüler.
    Damals war Fritzl schüchtern, ungeschickt, unbeliebt. Er hatte diesen funkelnden, flehentlichen, auch ängstlichen Blick misshandelter Kinder, die versuchen, ihren Peiniger zwischen zwei Trachten Prügel zu erweichen. Er träumte schon vom Körper seiner Mutter, beäugte sie durch einen Spalt zwischen zwei losen Brettern der kleinen Toilette, die sie in einer Ecke der Küche zusammengezimmert hatten. Als er fünfzehn war, hätte Annette ihn fast mit der kleinen Pendeluhr vom Nachtkästchen erschlagen, nachdem er eines Abends erregt in ihr Schlafzimmer gekommen war und die Decke angehoben hatte, um sie im Schlaf zu missbrauchen. Danach sperrte sie ihn von neun

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