Claustria (German Edition)
Mit zweiundfünfzig Jahren war der einstige Bub Roman Fritzl der letzte Überlebende des Kellervölkchens. Seine Mutter war tot, Bruder und Schwester waren keine vierzig geworden. Die Luft der Freiheit hatte sie langsam umgebracht wie giftige Dämpfe.
Das Haus in Amstetten war siebenmal weiterverkauft worden, seit sie am 26. April 2008 dort herausgekommen waren. Damals war Roman fünf Jahre alt gewesen. Wie sein Vater einmal zu einem Nachbarn gesagt hatte, ist das Haus in die Geschichte eingegangen.
„Welche Geschichte?“
Ein Lächeln hatte seine Lippen umspielt, er hatte es gleich wieder hinuntergeschluckt wie einen Bissen Essen.
Doch irgendwann vergisst man Geschichten, und der letzte Eigentümer der Liegenschaft ging bankrott. Der Nachtclub, den er fünfzehn Jahre zuvor eröffnet hatte, zog keine Gäste mehr an. Vorbei war die Zeit, als man sich an der winzigen Bar gegenüber der Tanzfläche für Zwerge gedrängt hatte. Unter der niedrigen, kaum mannshohen Decke feierte man den Geburtstag eines Freundes, der als Vampir verkleidet war, die Taufe eines Kindes, dessen Eltern hofften, es möge einmal so brillant werden wie Luzifer, die Hochzeit eines Paares, das, nachdem die letzten Gäste gegangen waren, schaudernd seine Hochzeitsnacht vollzog, auf allen vieren auf einem Tisch an der Stelle, wo einst das Bett gestanden hatte, in dem der Vater seine Tochter ein Vierteljahrhundert lang gevögelt hatte.
Am Schluss kamen höchstens noch ein paar alte Männer auf ein Bier und dachten voller Nostalgie an ihre Jugend zurück, als die Medien aus aller Welt in die kleine Stadt eingefallen waren und Bilder vom Haus des Monsters bis nach China und Australien übertragen hatten. Sie warteten auf Geister, und als diese nicht erschienen, schoben sie müde ihr Glas zurück, standen betrunken auf, dabei schlugen sie sich den Kopf an den Deckenlatten an, wankten durch das Labyrinth und stiegen wieder hinauf mit Augen wie denen eines toten Fischs.
Eine Explosion an einem Morgen im Dezember. Am Tag zuvor versahen Feuerwerker das ganze Gebäude mit Sprengstoff. Ein Knall im Schneegestöber, wie man ihn seit den letzten Bombardements der Alliierten 1945 nicht mehr gehört hat. Ziegel, Steine, Holz, Beton stürzen in sich zusammen, ein paar Stücke der Dachterrasse kann man auf dem Schutthaufen noch erkennen. Dann macht der Bulldozer alles platt und glatt, dem Erdboden gleich. Kein Grund, die Szene für die Nachwelt festzuhalten. Obwohl der Altbürgermeister Sorge dafür trug, den Presseagenturen das Ereignis zu melden. Er wollte auch selbst ein paar Fotos machen. In der Nacht bekam er eine Erkältung und blieb zu Hause.
Roman wischt mit seiner behandschuhten Hand die Schneeflocken von seiner Brille. Ein paar Schritte entfernt entdeckt er ein Stück vom Haus, er geht aber nicht hin, um es aufzuheben und es bei sich im Wohnzimmer auf den Kaminsims zu stellen wie ein Stück der Berliner Mauer. Keine Reliquien – seine Erinnerung ist so voll davon, dass er sie jede Nacht in seinen Träumen auskotzt.
Er steigt wieder in seinen Wagen. Im Rückspiegel sieht er das Schild des verflossenen Tanzclubs, es wird von einem Solarpanel gespeist und blinkt noch immer auf seinem Ständer, der von der Explosion kaum erschüttert wurde. In Zukunft werden Autos über dem Keller parken – niemandem kam in den Sinn, ihn zusammen mit dem Haus zu sprengen. Nun wird er bis zu dem fernen Tag, da ein Erdstoß ihn seinerseits zum Verschwinden bringen wird, wie eine albtraumhafte Tasche in der österreichischen Erde verbleiben.
Heute ist Amstetten eine grüne Stadt. Vom Frühjahr an steht sie in Blüte, die Straßen wurden mit Rasenteppich ausgelegt. Man stellt den Wagen auf dem Parkplatz ab – so wie man vor einer Moschee die Schuhe auszieht –, bevor man das Allerheiligste betritt, dessen Einwohner ihr schönes Ökosystem anbeten und in die Pedale treten, damit sich die Räder drehen wie Gebetsmühlen.
Platon, das Höhlengleichnis. Gefangene, die, bis auf menschliche Schatten an der Höhlenwand ihres Gefängnisses, niemals die Wirklichkeit sehen werden. Kinder in einem Keller, die nie die Außenwelt erblickten, bis auf Bilder, die durch ein Antennenkabel vom Himmel auf sie herabfielen.
Das Gleichnis durchwanderte vierundzwanzig Jahrhunderte, bevor es in einem kleinen Ort in Österreich seine Wiedergeburt erfuhr, mit einem Ingenieur als Komplizen und der unfreiwilligen Mithilfe des Schotten John Logie Baird, der 1926 den ersten Fernsehapparat
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