Claustria (German Edition)
Uhr abends bis zum Morgen in die Dachkammer.
In diesen Raum steckte Fritzl seine Mutter, als die Familie nach der Geburt des zweiten Sohnes aus ihrer engen Unterkunft auszog und sich endgültig in seinem Elternhaus niederließ. In der ersten Zeit wunderten sich die Nachbarn, dass sie die Frau nicht mehr sahen.
„Sie ist im März an einer Lungenentzündung gestorben.“
Das fanden sie eigenartig, keiner hatte gesehen, dass man einen Sarg aus dem Haus getragen hätte. Überdies wies der Bürgermeister Josef Fritzl einmal im Scherz darauf hin, dass Annette laut Personenstandsregister noch immer lebe. Doch mit der Zeit wurde ihr Tod schließlich beglaubigt.
Als sie 1980 dann tatsächlich starb, wandte Fritzl sich an ein Bestattungsunternehmen in St. Georgen am Reith. Der Sarg wurde durch den Garten zur Garage getragen, wo der Leichenwagen stand. Es regnete an jenem Tag, die wenigen Passanten zogen unter dem Schirm die Köpfe ein, keiner sah den Wagen aus der Garage kommen. Annette wurde ohne Zeugen eingeäschert. Fritzl holte ihre Asche nie ab.
Sobald Fritzl weg war, versuchte die alte Frau, bei Anneliese Mitleid zu erregen. Mit ihren Tränen rang sie ihrer Schwiegertochter einen täglichen Spaziergang im Garten ab. Steif ging sie über den Rasen, suchte mit den Händen die Sonne und kniff die Augen zu, um nicht von den Strahlen geblendet zu werden.
Die frische Luft machte sie schwindelig. Sie schwankte und hockte sich hin, um nicht zu fallen. Ohne zu murren, ließ sie sich von Anneliese wieder ins Haus bringen, erleichtert, dem hellen Licht zu entkommen, das sie nach acht Jahren Gefangenschaft schnell ermüdete.
Doch nach etwa zehn Tagen regelmäßigen Ausgangs gewöhnte sie sich schließlich an die frische Luft. Künftig musste Anneliese laut rufen, damit sie wieder hereinkam. Annette flüchtete sich hinter den Geräteschuppen und klammerte sich an die Türklinke.
„Sie sind schlimmer als ein Kind.“
Mit Beschimpfungen gelang es Anneliese, sie wieder ins Haus zu bringen, die Treppe in die Dunkelheit ging Annette jedoch stets nur ungern hinauf. Um Strom zu sparen, hatte Fritzl beschlossen, ihr nur fünf Stunden am Tag Licht zuzugestehen.
„Du musst dich ausruhen, deine Nächte werden nun länger sein.“
Anneliese musste Annette ziehen, stoßen. Wenn Annelieses Schwester da war, beförderten die beiden Frauen sie mit vereinten Kräften nach oben wie einen kleinen Zahnradbahnwaggon. Annette stieß gegen jede Stufe, schrie auf, kletterte jedoch widerwillig, aber unerbittlich weiter.
Erschöpft von ihrer Kinderschar, ließ Anneliese die Schwiegermutter immer seltener hinaus. Annette sah den Garten nur noch ein, zwei Mal die Woche, je nach Laune ihrer Aufseherin. Oft wartete Anneliese, bis die Kinder im Bett waren, um sich dieser Mühsal zu unterziehen. Die Alte drehte im Mondschein ihre Runden im Gras.
Jedes Mal zeigte sie sich weniger einsichtig. Mit ihrer von einer Luftröhrenentzündung – die sie sich zu Anfang ihrer Einkerkerung in dieser Kammer ohne Heizung zugezogen hatte und unter der sie nun zehn Monate im Jahr litt – brüchigen Stimme rief sie um Hilfe. Wenn Anneliese einschritt und ihr den Mund zuhielt, murmelte sie hasserfüllte Worte unter der roten Hand, die sie knebelte, und versuchte zuzubeißen. Eines Abends bedrohte sie Anneliese mit einem Holzscheit, das neben dem Schuppen lag. Der Ausgang wurde gestrichen.
Zehn Jahre später zog Annette aus der Dunkelheit ins Grab.
An dem heißen Morgen des 3. August 1966 begleitete Anneliese ihren Mann zum Bahnhof von Amstetten. Ihre Schwester hütete das Haus, sie durfte niemandem die Tür öffnen, damit keiner die Schreie der Alten hörte, die jede noch so kleine Gelegenheit nutzte, um sich bemerkbar zu machen.
Mit seinem Rucksack sah Fritzl aus wie ein Wanderer. Heiter brach er nach Linz auf, sein Herz klopfte wie das eines jungen Burschen, der zum ersten Mal ohne die Eltern auf Reisen geht. Er küsste seine Frau nicht, bevor er den Zug bestieg, er hatte sie ohnehin noch nie geküsst. Einmal hatte sie gewagt, ihm dies vorzuhalten, und er hatte lachend erwidert, dass man Huren nicht küsse.
„Ich bin keine Hure.“
„Eine Frau, die sich flachlegt, ist eine Hure.“
Die Aussicht, bei dieser Firma zu arbeiten, begeisterte ihn. Er wäre Abteilungsleiter und hätte Arbeiter unter sich, die ihm wie Soldaten gehorchten. Doch ihm wurde schnell klar, dass seine Männer keine Angst vor ihm hatten und lediglich wie er selbst vor dem Ingenieur
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