Claustria (German Edition)
denen es auf die Plane regnete, die seine Mutter notdürftig über den Betten angebracht hatte, an das Schwitzen im Sommer, wenn die Raumtemperatur auf vierzig Grad stieg, an die Dunkelheit, den Durst, wenn Fritzl Strom und Wasser abstellte, um sie zu bestrafen.
Roman konnte noch so sehr den Kopf schütteln, in der Wohnung auf und ab gehen, durch die verlassene Stadt laufen, seinen Kopf unter eiskaltes Wasser halten, wie um ihn zu kühlen und die Arbeit seines Gehirns zu bremsen – sein Unterbewusstsein stieß hartnäckig weiter Erinnerungen aus wie Ziegelsteine, mit denen sein Bewusstsein Stück für Stück die Mauer seines Gedächtnisses wieder aufbaute, die in jener Nacht eingestürzt war, als die Polizei sie aus dem Keller geholt hatte.
Nicht wirklich Ziegelsteine, eher Schutt. Eine verscharrte Erinnerung, die explodiert war wie das Haus in Amstetten. Staub, Ruß, als könnte das Grauen weißglühend brennen und Asche zurücklassen. Die Opfer sind enttäuschend, Märtyrer sind nicht immer Helden. Und dann diese glitzernden Glücksmomente. Ein Gefühl von verlorenem Paradies, Unbeschwertheit, Feststimmung – die Sicherheit, Augenblicke reiner, durchscheinender, lichtvoller Freude erlebt zu haben, die Freude der ersten Kindheitsjahre.
Auch die Erinnerung an die erste offene Stahlbetontür, die in einen dunklen Schacht führte, Türen, die Fritzl hinter ihnen zuknallte, die zweite Schleuse, die in ein Büro führte. Dann eine glühendheiße Kammer, wo der Heizkessel röchelte. Die Mutter, die ihm die Augen verband, um ihn vor dem Tageslicht zu schützen. Die Treppe hinauf. Straßenlärm. Eine weitere Treppe. Das Geräusch eines Schlüssels, eines Schlosses, und wieder eine Tür, die sich öffnet.
Angelika geht hindurch. Sie trägt ihn in ihr ehemaliges Kinderzimmer, in dem nun seine Schwester Sophie wohnt, er hat sie noch nie gesehen. Heute ist sie sechzehn, sie hat nur neun Monate im Keller gelebt und wird sich nie daran erinnern.
Die Fensterläden sind geschlossen. Sophie ist in die Schule gegangen, ohne ihr Bett zu machen. Poster hängen an denselben Stellen wie damals bei seiner Mutter. Andere Gesichter haben Julio Iglesias ersetzt wie auf einem Bildschirm, auf dem nun ein anderes Programm läuft. Das Mobiliar wurde nicht erneuert, der Wandschrank wurde pink angemalt. Angelika erkennt die blaue Tagesdecke wieder, sie ist in vierundzwanzig Jahren ausgebleicht, vom vielen Gebrauch dünn geworden wie ein Wolltuch.
Sie legt Roman aufs Bett. Er hört seine Mutter auf dem Gang weinen, aber er ist sich nicht sicher, vielleicht ist er bereits eingeschlafen.
Ein schreckliches Erwachen. Seine Mutter und sein Großvater sind nicht da, sie werden auf dem Kommissariat befragt. Er schlägt die Augen auf und sieht im Schein der Nachtkästchenlampe eine alte Frau. Seine Großmutter zeichnet sich gegen die Dunkelheit ab. Er hat sie auf Fotos gesehen, die Fritzl in den Keller brachte, um ihnen zu zeigen, wie wunderbar das Leben der Kinder oben ist. Sie hält eine Schüssel mit Milch in der Hand, auf der Cornflakes schwimmen wie Blütenblätter.
Er setzt sich im Bett auf, tunkt den Löffel ein, aber er hat keine Zeit, die Schüssel auszuessen. Es klingelt, die alte Frau geht zur Tür. Bedrohliche Stimmen, das fremde Geräusch von Schritten auf dem Parkett. Im Keller hörte er immer nur das Geräusch von Fritzls Schuhen oder der Pumps seiner Mutter, wenn sie sich verkleidete, um Fritzl scharf zu machen, oder allein durch die kleinen Zimmer zu gehen und sich der Illusion hinzugeben, gleich würde ein Geliebter sie abholen, sie würden zusammen im Restaurant zu Abend essen oder durch die Stadt mit ihren verführerischen Schaufenstern schlendern. Und Turnschuhe hört man ja kaum, außerdem gingen sie meist barfuß.
Eine Polizeibeamtin nimmt ihn mit, während ihre Kollegen das Haus durchsuchen. Sie hat eine sanfte Stimme, sie traut sich kaum, ihm ins Ohr zu flüstern. Draußen ist Nacht. Sein Blick wandert gleich zum Himmel, der über seinem Kopf schwindelerregend hoch ist. Schimmernder Mondschein, die Sonne, die hinter ihm glüht, hätte ihn geblendet, wenn der Planet einen Luftsprung gemacht hätte.
Er hat ihn der Polizistin gezeigt und geblinzelt.
„Ist das da oben Gott?“
Eine Frage in schlechtem, fast unverständlichem Deutsch. Die Kinder sprachen kaum im Keller. Dann krabbelt er jammernd auf allen vieren auf dem Rasen davon. Sie fängt ihn wieder ein, schließt ihre Finger fest um sein Handgelenk wie eine
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