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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Régis Jauffret
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kurzen Anruf im Spital zu bewegen.
    ,,Wozu?“
    Er ging.
    Angelika in der Morgendämmerung in der elterlichen Wohnung.
    Kurz Annelieses Schatten auf dem Boden im Gang. Sie verschanzt sich in der Küche, legt eine Patience und zwingt sich, vor sich hin zu trällern, damit sie nichts von dem Telefongespräch ihrer Tochter mit dem Chefarzt des Spitals hören muss.
    ,,Meine Tochter ist sehr sportlich, sie hat noch nie Rachitis oder Ähnliches gehabt, auch keine Erbkrankheit. Es ist eine Erkältung, die immer schlimmer geworden ist.“
    Der Arzt ist hartnäckig. Er spricht von einem Aufenthalt in schlecht gelüfteten Räumlichkeiten, Taucherkrankheit, Nierenversagen, Lungenatrophie, von extremer Skoliose wie bei Verwachsenen, brüchigen Knochen, zerbrechlich wie Glas.
    Fritzl legt den Finger an die Lippen. Angelika schweigt. Der Arzt fragt, ob sie noch da sei. Fritzl legt auf.
    ,,Bist du jetzt zufrieden?“
    Angelika weiß es nicht. Der Arzt sucht sie nun schon so lange. Er würde immer wieder auf dem Bildschirm erscheinen und sie zum Kommen auffordern. Sie hat mit ihm gesprochen. Sie hat gehorcht. Sie senkt den Blick, um nachzudenken.
    ,,Kannst du mich hinfahren, damit ich Petra besuchen kann?“
    ,,Was redest du da?“
    Da fiel Angelika das Abendessen ein.
    ,,Die Karotten schälen sich nicht von allein.“
    Sie verließ das Wohnzimmer. Im Halbdunkel stieß sie an ein Möbelstück. Sie hatte es zu eilig, um ihr schmerzendes Knie wahrzunehmen. Sie lief schnell, Fritzl hatte Mühe, ihr zu folgen. Am Kellereingang kehrte er wieder um. Ein Diktator, der im Niedergang begriffen und dessen Thron bereits gestürzt war. Weit offene Türen wie abgeschaffte Grenzen.
    ,,Warum hat sie nicht mit Fritzls Handy telefoniert?“
    Nina weigerte sich, den Landespolizeikommandanten von Niederösterreich zu kontaktieren und ihm diese Frage zu stellen.
    ,,Nach dem, was Sie getan haben, würde er diesen Anruf nicht einmal entgegennehmen.“
    Ich frage mich noch immer, warum die Polizei keine Nachforschungen angestellt hat, um festzustellen, woher der Anruf gekommen war.

Die letzte Woche vor dem Exodus des Kellervölkchens. Fritzl spricht wieder von Auswanderung. Stufe um Stufe würden sie dieses Land verlassen. Am Ende der Treppe läge die Neue Welt.
    ,,Aber es eilt ja nicht. Außerdem wäre es sicherlich besser, wenn ihr hier bleiben würdet. Petra kommt wieder auf die Beine.“
    Angst und Hoffnung, Auf und Ab. Die Pumpe nimmt das Licht wieder zurück, das sie zuvor hell verstrahlte. Martin ist aufgeregt. Seit Petra im Spital ist, spürt er sie wie ein Amputierter sein Bein. Sie sind wie zweieiige Zwillinge, daran wird er fünfundzwanzig Jahre später am Tag nach dem Tod seiner Schwester sterben.
    ,,Sie ist auf dem Weg der Besserung. Sie bringt dir einen Roller mit.“
    Roman glaubte seiner Mutter. Er versucht, aufrecht zu gehen, damit er den Lenker halten kann. Mit dem Mund macht er Motorradgeräusche. Er tut so, als würde er Hindernissen ausweichen. Langsam fällt er um und springt mit einem Satz wieder auf.
    Diese letzten Tage bescherten ihm die schönsten Erinnerungen seines Lebens. Ein komprimiertes Glück, das alle Ecken seiner Welt ausfüllte. Er stellte sich vor, wie die Ratten in Abendkleidern in ihren Löchern tanzten wie Offiziere und Prinzessinnen. Er jagte Tweety dem Kanarienvogel nach und stellte sich vor, der Roller könne fliegen.
    Angelika verspürt bereits Sehnsucht nach dieser Zivilisation auf dem Weg in den Untergang. Angst vor der Zukunft, einer unsicheren Zeit, Furcht, ihre Kinder im Dschungel der Städte zu verlieren. Dass sie all diesen Passanten ihre Zuneigung schenken könnten, denen sie auf der Straße, in der Zeit begegnen werden, im Tohuwabohu des Lebens ohne Mauern fernab der Kiste, deren einziger Inhalt sie, ihre Mutter und ihr zeitweilig anwesender Vater waren. Kinder, die über Bord geworfen wurden, sie rudern und strampeln und mühen sich, den Kopf über Wasser zu halten.
    Vor ihr die Freiheit, ein Abgrund aus Helligkeit und Lärm. Die unendliche Weite der Erde und der Menschen. Die Hoffnung, endlich in Werbespots zu leben, die wie Träume durch die Gehirne des Kellervölkchens driften. Die Aufregung, ihr winziges Heimatland zu verlassen, die Intimität dieses abgeschotteten Raumes, der über das Labyrinth versorgt wurde, das Fritzl immer mit Lebensmitteln und Müllsäcken beladen durchquerte.
    Ihre Geschichte würde bald ein böses Märchen sein, eine Legende, deren Ursprünge man anzweifeln wird. Angelika

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