Claustria (German Edition)
seiner Ehe mit Anneliese. Seine Mutter hieß Annette, ein ähnlicher Name wie der seiner Gattin.
Ein unfähiger, unproduktiver, fauler Vater, die Mutter warf ihn hinaus, als Fritzl vier Jahre alt war. Er meldete sich zu den Sturmtruppen und fiel 1944 an der Ostfront, ohne je versucht zu haben, seinen Sohn wiederzusehen. Es hieß, er sei unfruchtbar gewesen und Annette habe den Plan gefasst, sich von einem anderen Mann befruchten zu lassen, um ihn zu demütigen. In diesem Fall wäre Fritzl, biologisch gesehen, von einem unbekannten Vater gezeugt worden.
Annette war ein Opfer des Nationalsozialismus. Während des Krieges wurde den Bewohnern von Amstetten auferlegt, Familien aufzunehmen, deren Häuser im Osten des Reichs von alliierten Bomben getroffen worden waren. Eine Familie pro Zimmer mit freier Nutzung der Küche und der Toilette. Annette machte ihnen das Leben schwer. Sie stellte ihnen ohne Not das Wasser ab, verdarb ihr Brot, bedachte sie mit allen Kraftausdrücken ihres Dialekts, den sie besser beherrschte als Deutsch, und verfluchte den „Anschluss“. Die Familien beschwerten sich bei den Ämtern.
Drei Gendarmen aus dem Ort kamen und wollten sie festnehmen. Sie weigerte sich, ihnen zu öffnen, und schimpfte auf Hitler.
„Ich scheiß’ auf ihn, auf den und auf seine ganze Deutschenclique!“
Als die Männer die Tür aufbrechen, flucht Annette wieder los. Diese magere Frau von eins sechsundfünfzig wird fuchsteufelswild. Sie packt eine Ascheschaufel und schlägt dem kleinen Dicken der drei Männer die Augenbraue auf. Die beiden anderen ziehen ihre Waffen, wagen aber nicht, auf eine Nachbarin zu schießen, die sie seit ihrer Kindheit kennen. Die Schaufel fällt zu Boden, Annette auch, sie wehrt sich mit all der Kraft ihres Hasses und ihres Zorns. Der wütende Verletzte stürzt sich auf sie, schlägt ihr den Gewehrkolben ins Gesicht, ihr rechtes Auge platzt auf, sie verliert ohne einen Schrei das Bewusstsein. Die drei nutzen die Lage und nehmen sie mit.
Sechs Monate Haft in einem der fünfzig Außenlager von Mauthausen, einen Gewehrschuss vom Zentrum Amstettens entfernt. Bei ihrer Einlieferung muss Annette sich vorschriftgemäß auskleiden und einen gestreiften Drillich mit dem grünen Dreieck für Kriminelle anziehen. Man schert ihr die Haare, tätowiert sie. Ein jüdischer Arzt näht das Lid ihres verletzten Auges mit Nadel und Faden, den er auf der Krankenstation der SS geklaut hat. Am nächsten Tag wird er denunziert und totgeschlagen. Das kümmert die Arierin nicht.
In der ersten Zeit arbeitet sie vierzehn Stunden täglich, der Appell dauert jeden Abend drei Stunden, bevor man sich bis zum Morgengrauen in den Baracken schlafen legen kann.
Josef wird nach Wien in ein Waisenhaus verbracht. Den Jungen quält es, dass er seiner gewalttätigen Mutter entrissen wurde. Er läuft gleich wieder weg, um sie zu suchen. Er irrt durch die Stadt, folgt den Leuten in alle Richtungen. Bei Einbruch der Nacht streift er allein, unbemerkt, klein und schimmernd im Schein der Straßenlampen unter seinem schwarzen Wachstuchumhang umher.
Er stiehlt sich in eine Gruppe Männer mit Hüten, die den Bahnhof betreten. Mit ihnen besteigt er einen Waggon der ersten Klasse. Der hintere Zugteil dröhnt vom Gesang der angesäuselten Rekruten, die Friedrich Paulus bald bis zum letzten Mann in Stalingrad verheizen wird. Fritzl duckt sich im Gang in den Schatten eines Koffers.
Zwei Soldaten bemerken ihn, als sie den letzten Prüfgang machen. Sie ziehen ihn aus dem Zug, stellen ihn auf den Bahnsteig und geben einem Polizisten ein Zeichen, der zum Schutz vor dem Regen unter einem verrosteten Vordach steht, damit seine Zigarette nicht nass wird. Fritzl wird ins Waisenhaus zurückgebracht und verprügelt.
Bei ihrer Rückkehr prahlt Annette damit, schnell einen Posten als Aufseherin ergattert zu haben. Und in der Tat ist sie nicht abgemagert, ihre Haare sind auch wieder gewachsen. Sie findet ihr Haus beschlagnahmt und bis unters Dach mit Fremden vor. Ihr bleibt eine Matratze im Keller, dieselbe, auf der sie siebenunddreißig Jahre später in Gefangenschaft sterben wird.
Ein paar Wochen nach ihrer Entlassung wird Annette rückfällig. Sie greift eine junge Frau an, die in ihrem ehemaligen Schlafzimmer mit ihren drei Kindern einquartiert wurde. Wieder wird sie verhaftet, dieses Mal kommt sie ins Hauptlager Mauthausen-Gusen, wo sie zusammen mit den anderen Häftlingen Steine klopfen muss. Wieder erfährt sie die Marter des Abendappells,
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