Claustria (German Edition)
man läuft, auch wenn der Regen die Sohlenabdrücke verwischt.
Petra liegt im Sterben, er muss sie unbedingt hinaufbringen. Sicherlich kann man sie heilen, ansonsten muss man sie auf einem Friedhof begraben, das hier ist kein Grab. Ich wünsche mir, dass sie einen Sarg kriegt. Seine Sachen räumt man in einen Schrank, Tote bekommen eine Schublade. Er kann Petras Leiche dann vor die Tür legen, ich hänge ihr ein Namensschild um den Hals. Wir werden uns lautlos umbringen. Ich lasse ihn schwören, dass er uns einen nach dem anderen hinaufträgt. Leichen schweigen. Er wird sagen, dass Sekten Ehrfurcht vor dem Tod haben und den Familien ihre toten Angehörigen zurückgeben. Wir haben nur noch neun Kartoffeln, und der Rest Butter ist ranzig. Die Tücher sind nicht warm, ich habe Petra darin eingewickelt, am Morgen waren sie ganz nass vor Schweiß. Sie ist fast an der zerdrückten Kartoffel erstickt, sie hatte keine Kraft mehr, sie wieder herauszuwürgen, als sie sie geschluckt hatte. Ich glaube, sie ist trotzdem dick geworden, sie hat noch viel Fett auf den Hüften. Dünne Kinder sterben schneller. Eine Ratte ist über ihr Bett gehuscht und verschwunden. Martin will Sex, ich muss ihn besänftigen, ansonsten schreit er. Ich habe Lust auf Obst. Gestern habe ich uns im Fernsehen gesehen. Oben spricht man über uns, sie haben es satt, nach uns zu suchen, sie haben Schauspieler für uns eingesetzt.
Ihr Kopf fiel aufs Heft. Sie schlief ein wie eine Schülerin, die müde ist vom Lernen. Martin sah einen Film im Schlafzimmer an, man hörte Frauen stöhnen und konnte meinen, die Männer würden ihren letzten Atemzug tun. Martin ächzte.
Angelika wachte auf. Im Licht der Glühbirne ist die Nacht wie der Tag. Sie machte Wasser heiß. In einem Glas fand sie noch drei Prisen Thymian. Sie gab sie in eine Schüssel. Das Wasser verfärbte sich zu einem grünlichen Gebräu. Sie benetzte Petra mit dem abgekühlten Sud.
Petra stöhnte lauter. Angelika bekam wieder Hoffnung, Petra wirkte lebendiger als tags zuvor. Angelika weichte die schmutzigen Laken ein. Seit einem Monat ist die Waschmaschine kaputt. Fritzl warf Angelika vor, dass sie dem Dreck gegenüber nicht so duldsam war wie ihre Mutter.
,,Du wäschst zu oft.“
Roman ruhte auf dem oberen Stockbett. Martin schlief quer auf dem großen Bett. Der Film war vorbei, die Kassette war am Ende des Nachspanns stehen geblieben, der Lautsprecher pfiff vor Rückkopplungen. Angelika schaltete den Videorekorder aus und den Fernseher ein. Eine Spätnachmittagssendung. Ein Arzt sprach von einem neuen Impfstoff, der die Frauen von morgen von Gebärmutterkrebs verschonte.
Angelika ging ins Bad. Die Bettwäsche färbte das Wasser kotbraun. Sie überlegte, ob sie die Laken nicht durch Müllsäcke ersetzen könnte. Aber wenn Petra erst wieder gesund wäre, würde der Vater die Matratze auf jeden Fall entsorgen und eine neue bringen.
,,Aufwachen!“
Sie hatte geschrien. Roman fuhr auf. Martin wurde wach und wollte sein Frühstück. Sie brachte ihm den Rest des kalten Thymiansuds. Er warf ihn an die Wand. Kalt schlang er die beiden Kartoffeln hinunter, die noch im Kühlschrank waren.
,,Ihr müsst mir helfen, Petra ins Bad zu tragen.“
Die Wäsche hing über der Badewanne, die bereits voll mit dampfendem Wasser war. An jenem Tag herrschte eine Schweinekälte.
,,Sie stinkt.“
Martin ging wieder ins Schlafzimmer. Er schaltete zu einem neuen Comedian um, der seit einem Jahr die Variété-Theater des ganzen Landes füllte. Er lachte, indem er den Kopf in den Kragen seines Pullovers steckte.
Roman hielt Petra an den Füßen, Angelika schleifte sie. Sie schaffte es, sie ins Wasser gleiten zu lassen. Petra brabbelte und zog ein Gesicht, das Angelika für ein Lächeln der Genugtuung hielt. Ein Netz aus violetten Äderchen umhüllte ihre Beine, ihre kurzen, mageren, bleichen Arme, ihre Hände mit den vorstehenden Adern, ihre zweigdürren Finger, den geschwollenen Bauch eines hungernden Kindes, darunter die spärliche Behaarung wie Haarrisse auf dem abgewetzten Zelluloid eines alten Films. Weißes Gesicht, große vorstehende Augen, manchmal von Lidern verhüllt, das Loch ihres Mundes, wenn die Lippen sich leicht öffneten. Ein ungestaltes Baby unter dem Vergrößerungsglas.
,,Deine Schwester ist wie eine Blume, sie blüht wieder auf, wenn man sie in eine Vase stellt.“
Roman sah in ihr keinerlei Ähnlichkeit mit den Wiesenblumen, die Fritzl im Frühjahr manchmal mitbrachte. Außerdem konnte man
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