Claustria (German Edition)
ihre Stiele ins Wasser stellen, solange man wollte – die Nacht überstanden sie nie.
,,Ich bitte deinen Vater um Milch.“
Sie strich Petra durch das lichte Haar, eine Kappe aus gelben Haaren, die ihr manchmal in die Stirn und auf den Hals fielen.
,,Wir brauchen Schafmilch, sie ist leicht und nahrhaft.“
,,Geben Schafe Milch?“
,,Natürlich. Und ein Schaf ist auch ganz klein.“
Angelika stellte sich ein Tier wie ein Babyfläschchen vor, das man in der Kiste, der früheren Wiege der Kinder, aufs Regal stellen könnte. Es würde Gemüseabfälle fressen, Reiswasser trinken, Nudeln und Gemüse schlabbern. Es hätte übergroße Zitzen. Man würde es täglich melken, der Keller würde sich in eine Minimolkerei verwandeln.
,,Ich auch.“
,,Was, Mama?“
,,Auch Frauen geben Milch.“
Roman sah seine Mutter vor sich, wie sie den Fußboden abgraste.
,,Ist das wahr?“
,,Erinnerst du dich nicht?“
Dabei hatte sie ihn zwei Jahre lang gestillt. Auch heute noch gab sie ihm mitunter eine Brustwarze zum Saugen, um ihn zu beruhigen, wenn er nachts schrie. Aber so sehr er auch zubiss, es kam nie etwas heraus.
,,Mütter sind auch Schafe.“
Nun sah er eine Herde blökender Mütter, die das Wasser aus Fritzls Pool soffen.
,,Sie friert, Mama.“
Petra schlotterte. Angelika gab heißes Wasser dazu.
,,Sie schläft ein.“
Geschlossene Augen, nur noch der halb offene Mund suchte nach Luft – ein Schilfrohr, das über einem Teich auftaucht, in dem sich ein Flüchtiger vor der Polizei versteckt.
Mutter und Sohn tragen sie zurück ins Bett.
,,Lassen wir sie schlafen.“
Roman setzt sich auf den Boden, Angelika nimmt ihn an der Hand, führt ihn vor den Fernseher. Sie setzt ihn ans Fußende des großen Bettes, dort bleibt er sitzen, solange die Krimiserie läuft. Sie lässt ihn allein, als er bereit ist, in den Helikopter zu steigen, der zwischen Wolkenkratzern Kunststückchen macht.
In der Küche gab es nichts mehr zu essen. Zu Beginn des Fastens herrschte Überspanntheit. Angelika sprach mit der Glühbirne, einem undurchlässigen Mikrofon. Ein abgeschottetes Radio, dessen Moderator auch der einzige Zuhörer war. Ihre Stimme war kräftig, hell, melodiös, die Wörter waren beweglich genug, um zwischen den Latten hindurchzurutschen. Sie hallten im Hauseingang wider, stiegen die Treppen hinauf, durchdrangen die Wohnung wie Salmiakgeruch. Die Kinder von oben glaubten manchmal, sie zu hören. Sie sahen einander an, dann brachen sie in nervöses Gelächter aus. Sie glaubten an das ,,Echo“, so wie man im Mittelalter an den Werwolf und den Beelzebub geglaubt hat.
Irgendwann verstummte Angelika. Sie versuchte, ihre Worte zu lesen, die an der Decke klebten, um sie in ihr Heft zu übertragen. Leere Worthülsen, der Inhalt war dort oben verloren gegangen. Sie fegte sie weg, wenn sie als Staub auf den Boden fielen.
Am nächsten Tag benutzte sie ihr Heft als Megafon.
Die Wirklichkeit ist weniger traurig als diejenigen, die in ihr leben. Petra ist im Inneren gesund. Auch die Kinder müssen dünner werden. Wasser zu trinken ist gesünder, als Kartoffeln zu essen. Während wir geschlafen haben, hat er Reis und Schokolade in die Speisekammer geworfen. Martin hat die zwei Tafeln verschlungen, die ganze Nacht war ihm übel. Heute Morgen ist er mit Bier wiedergekommen, hat eine Dose an Petras Bett getrunken und war sauer, weil sie noch nicht gesund ist. Er hat ihr ein paar Tropfen in den Mund geschüttet, hat gesagt, Bier enthalte Hefe. Sie hat gewürgt, er war genervt:
,,Vielleicht ist es gut, wenn sie stirbt. Dann habt ihr sie vom Hals. Der Heizkessel ist kein Krematorium. Der Brenner wird davon schmutzig. Ich habe keine Lust darauf, dass der Spengler einen halb verbrannten Fuß findet.“
Er ist gegangen und eine Stunde später zurückgekommen. Dann ist er wieder gegangen und hat die Luke offen gelassen. Er ist aber nicht stehen geblieben, sondern umgekehrt. Ich habe gehört, wie er die Treppe hinauf- und wieder hinuntergestiegen ist. Ich esse zu viel. Wenn er doch nur nicht einen so großen Packen Lebensmittel gebracht hätte, damit ich ihm ein Abendessen koche! Ich konnte mich nicht beherrschen, ich habe die halbe Kekspackung gegessen. Mit den Lakenzipfeln werde ich mir ein Springseil knoten. Die Kalorien werden verbrannt, und der Zucker kann sich nicht in Fett umwandeln. Petra ist am Verhungern. Ich drücke über ihrem Mund einen Waschlappen mit Zuckerwasser aus, das sie zusammen mit ihrem Speichel schluckt. Wenn meine
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