Club Kalaschnikow
tiefe Stimme, ein Anzug in der Farbe der Augen, das schon leicht ergraute, stellenweise schüttere Haar zu einem kurzen Igel geschnitten. Er hatte sich noch nicht vorgestellt, da faßte er sie schon beim Arm, führte sie in den Nachbarsaal, wo erhitzte Paare Rock’n’Roll tanzten und eine wild zappelnde Band ohrenbetäubend laut aufspielte.
»Ich möchte keinen Champagner, ich möchte auch nicht tanzen«, sagte Katja tonlos, nur mit den Lippen.
»Auch gut, dann machen wir uns unauffällig aus dem Staub.«
Sein Name war Jegor Barinow. Er war Wirtschaftswissenschaftler, Professor und Leiter einer riesigen Abteilung an der Akademie der Wissenschaften, schrieb bissige, kluge Artikel in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. Damals, 1987, war er dreiundvierzig, für einen Politiker also noch recht jung. Den Namen Jegor Barinow kannte ganz Moskau. Er gehörte zur Mannschaft der jungen Reformer um Gorbatschow.
In dem dunklen einsamen Taxi küßten sie sich gierig. Ravels »Bolero«, der im Radio lief, klang ihr auch später, in der riesigen leeren Wohnung, in der warmen fremden Stille, noch in den Ohren.
Am Morgen küßte er ihre verschlafenen, leicht verquollenen Augen und kochte brasilianischen Kaffee – selbst für Katja eine exotische Kostbarkeit. Das Tablett mit den zerbrechlichen antiken Tassen brachte er ihr direkt ans Bett, lächelte, streichelte sie zärtlich, fuhr mit den Fingern durchihr aufgelöstes Haar und ließ sie nicht zur Besinnung kommen.
Auf dem Toilettentisch im Schlafzimmer standen allerlei Cremetiegel und Parfumflakons. Auch eine Massagebürste lag dort, in der sich einige fremde blonde Haare verfangen hatten.
»Ja, ich bin verheiratet. Mein Sohn ist schon erwachsen, nur zwei Jahre jünger als du. Meine Frau lebt ihr eigenes Leben, sie ist Mikrobiologin, auch Professorin, reist in der ganzen Welt herum, im Augenblick ist sie gerade mit unserem Sohn in Washington. Wir haben von Anfang an nicht zusammengepaßt, zwischen uns ist längst alles vorbei. Für mich gibt es jetzt nur dich, alles andere ist nicht wichtig.«
Katja empfand es genauso: Wirklich, es ist nicht wichtig. Konnte denn irgend etwas wichtiger sein als das ausgelassene, trunkene Glück, das jede Zelle ihres Körpers, jede Sekunde ihres Lebens und ihres Tanzes ergriff, auf den Kopf stellte und mit neuem Sinn erfüllte? Zu Katjas perfekt ausgefeilter Ballettechnik gesellte sich nun etwas, das vorher nicht da war.
Ihre Heldinnen – Odette aus »Schwanensee«, Mascha aus dem »Nußknacker«, Giselle – strahlten jetzt so viel Gefühl und Liebe aus, daß die Zuschauer wie verzaubert waren und am Ende in begeisterten Applaus ausbrachen.
Jegor Barinow wurde zum Ballettexperten, saß bei den Aufführungen in der ersten Reihe, ging in der Pause zu Katja in die Garderobe, küßte ihr erhitztes Gesicht und kehrte mit einem geheimnisvollen Lächeln und Schminkspuren im Gesicht in den Saal zurück. Wenn der Vorhang fiel, trug er vor aller Augen riesige Blumenkörbe auf die Bühne und stellte sie vor die Solistin.
Katja begann sich für Wirtschaft und Politik zu interessieren, sah regelmäßig fern, las zum Erstaunen ihrer Eltern die »Moskowskije Nowosti« und »Ogonjok« und hörte die neuen demokratischen Radiosender. Sie verschlang jedenArtikel ihres geliebten Jegor und erregte sich über seine Gegner, die ihr allesamt hinterlistig und unbegabt erschienen.
Ihre ganze Freizeit verbrachten sie miteinander, spielten Tennis, galoppierten auf den Rassehengsten der berühmten Pferdefarm von Istra durch die stillen Wälder um Moskau, mieteten sich Luxussuiten in den Nomenklatura-Hotels oder bummelten einfach durch die Stadt.
Barinow, der ehemalige Komsomol-Funktionär und jetzige Demokrat, bediente sich ausgiebig an der alten Futterkrippe der Partei. Ihm stand alles zur freien Verfügung. Sogar Katja, die im elitären Filmmilieu groß geworden war, verblüffte das wilde süße Leben ihres dreiundvierzigjährigen Märchenprinzen.
»Aber natürlich, Kleines, das ist doch eine ganz andere Ebene«, sagte Jegor, verteilte Räucheraal auf die Teller, schälte gekonnt eine – nie zuvor gesehene – Kiwi, klickte mit seinem Ronson-Feuerzeug und zündete sich eine echte englische Dunhill an.
Ende 1987 waren die Regale der Geschäfte leer, und auch die Sonderzuteilungen fielen dürftig aus. Sogar Tee, Zucker und Grieß wurden zur Mangelware. Die Schlangen vor den Geschäften wurden immer länger, die Menschen immer resignierter.
Katja
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