Cobra
lediglich zur Übung – er wusste, wohin er wirklich wollte. Jame hatte ihm geraten, Alyse Carne anzurufen, bevor er sie besuchte, doch Jonny war in einer trotzigen Stimmung. An der nächsten Ecke bog er ab und fuhr zur Blakely Street.
Alyse wirkte überrascht, als er sich über die Gegensprechanlage ihres Apartmentgebäudes meldete, aber als sie die Tür aufmachte, hatte sie ein strahlendes Lächeln aufgesetzt. »Jonny, schön, dich zu sehen«, begrüßte sie ihn und streckte die Hand aus.
»Hi, Alyse.« Er lächelte zurück, ergriff ihre Hand, trat in ihr Apartment und schloss die Tür hinter sich. »Ich hatte schon Angst, du hättest mich vergessen, während ich fort war.«
Ihre Augen leuchteten. »Wohl kaum«, murmelte sie … und plötzlich lag sie in seinen Armen.
Eine volle Minute später löste sie sich sachte von ihm. »Sollen wir uns nicht setzen?«, schlug sie vor. »Wir haben drei Jahre nachzuholen.«
»Stimmt irgendetwas nicht mit dir?« fragte er sie.
»Nein. Wieso?«
»Du wirkst ein bisschen nervös. Vielleicht bist du ja verabredet.«
Sie wurde rot. »Heute Abend nicht. Du weißt vermutlich, dass ich mich oft mit Doane getroffen habe.«
»Ja. Ist das was Ernstes, Alyse? Komm schon, ich habe ein Recht, es zu erfahren.«
»Ich mag ihn«, antwortete sie und zuckte verlegen mit den Achseln. »Irgendwie wollte ich mich wohl gegen den Schmerz absichern, falls du nicht zurückgekommen wärst.«
Jonny nickte verständnisvoll. »Das habe ich auf Adirondack auch mehrmals beobachtet, meist in den Familien der Zivilisten, bei denen ich gerade lebte.«
Alyse schien leicht zusammenzuzucken. »Tut mir leid. Auf jeden Fall wurde mehr daraus als erwartet, und jetzt, da du wieder da bist …« Sie ließ den Satz unbeendet.
»Du brauchst dich heute Abend nicht zu entscheiden«, sagte Jonny nach einer Weile. »Höchstens, ob du den Abend mit mir verbringen willst oder nicht.«
Die Anspannung in ihrem Gesicht ließ ein wenig nach. »Das ist nicht schwer. Hast du schon gegessen, oder soll ich uns nur etwas Kahve aufsetzen?«
Sie unterhielten sich fast bis Mitternacht, und als Jonny schließlich ging, hatte er einen Teil jener Zufriedenheit zurückgewonnen, die er bei seiner Ankunft in Cedar Lake verspürt hatte. Doane Etheridge würde sehr bald wieder im Hintergrund verschwinden, dessen war er sicher, und wenn Alyse und seine Familie wieder ihre gewohnten Plätze einnahmen, würde er endlich wieder in einer Welt leben, die er kannte. Den Kopf voller Pläne für die Zukunft, ließ er sich ins Haus der Moreaus ein und schlich auf Zehenspitzen auf sein Zimmer.
»Jonny?«, flüsterte es von der anderen Seite des Zimmers. »Alles in Ordnung?«
»Ja, Jame – einfach großartig«, flüsterte Jonny zurück.
»Wie war’s bei Alyse?«
Jonny lachte in sich hinein. »Schlaf weiter, Jame.«
Seine Pläne lösten sich einer nach dem anderen in Luft auf. Die Arbeitgeber wiesen Jonny mit quälender Regelmäßigkeit ab, und schließlich war er gezwungen, nacheinander eine Reihe von Jobs mit körperlicher Arbeit auf Normstufe neun und zehn anzunehmen, was er so verzweifelt hatte vermeiden wollen. In keinem dieser Jobs blieb er lange. Immer wieder schufen die Ressentiments und die Angst seiner Kollegen eine Atmosphäre dumpfer Feindseligkeit, die Jonny nie länger als ein paar Tage ertragen konnte.
So wie seine Suche nach einer festen Anstellung scheiterte, so scheiterte auch seine Beziehung zu Alyse. Sie war nach wie vor freundlich und bereit, sich mit ihm zu treffen, doch herrschte eine Distanziertheit zwischen ihnen, die es vor dem Krieg nicht gegeben hatte. Um alles noch schlimmer zu machen, weigerte sich Doane, taktvoll das Feld zu räumen, und wetteiferte verbissen mit ihm um Alyses Zeit und Gunst.
Doch von Jonnys Standpunkt aus am allerschlimmsten war der unerwartete Ärger, der mit seinen Problemen über die übrige Familie hereinbrach. Seine Eltern und Jame konnten die Blicke, die geflüsterten Bemerkungen und leisen Ausgrenzungen ertragen, die es mit sich brachte, mit einem Ex-Cobra verwandt zu sein, das wusste er. Aber es war entsetzlich schmerzlich, mit ansehen zu müssen, wie sich Gwen vor den Grausamkeiten ihrer Altersgenossen zurückzog.
Mehr als einmal spielte Jonny mit dem Gedanken, Horizon zu verlassen und wieder in den aktiven Dienst einzutreten, um so seine Familie aus dem Kreuzfeuer zu befreien, in das sie seinetwegen geraten war. Aber jetzt zu gehen wäre dem Eingeständnis einer
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