Coco Chanel & Igor Strawinsky
bringen das Essen herein. Glänzende Schinken, Salate, Platten mit Kaviar, Schwarzmeeraustern, Pilze und Schwertfisch werden aufgedeckt. Igor lässt seine Finger knacken und dehnt sie, als bereite er sich auf ein anspruchsvolles Klaviersolo vor.
Die Tische sind in Kerzenlicht getaucht. Die Gespräche setzen ein. Man redet über Musik, Oper, Ballett und den aktuellen Klatsch aus der Kunstwelt. Diaghilew erinnert seine Gäste daran, wie Igor kürzlich verhaftet wurde, weil er gegen eine Wand uriniert hatte.
»Mein Gott, das war in Neapel«, erklärt Igor zu seiner Verteidigung.
»Und wie war das, als du während des Kriegs an der italienischen Grenze verhaftet wurdest?«, setzt Diaghilew hinzu.
»Da wurden Sie auch verhaftet?«, fragt Coco.
»Dieser Mann ist ein ganz gewöhnlicher Krimineller.«
»Also wirklich, Sergej, deine Gäste bekommen ja einen fürchterlichen Eindruck von mir.«
Trotzdem erzählt er die Geschichte. Bei der Durchsuchung seines Gepäcks hatten die Zöllner eine seltsame Zeichnung gefunden. Igor behauptete, es sei ein Porträt von Picasso, aber die Zöllner wollten ihm nicht glauben. All diese gewellten Linien - so etwas hatten sie noch nie zuvor gesehen. Stattdessen kamen sie zu dem Schluss, dass es sich um eine geheime militärische Blaupause oder einen verschlüsselten Angriffsplan handeln müsse.
»Sie sind offensichtlich ein sehr gefährlicher Mann«, sagt Coco.
»Zu guter Letzt ließen sie mich doch weiterfahren, und
das Porträt wurde mir später nachgeschickt.« Er trinkt einen großen Schluck Wein.
»Es muss heute eine Menge wert sein«, sagt sie.
Igor schürzt die Lippen und winkt relativierend ab. Er weiß, das alles ist nur Vorgeplänkel zu dem eigentlichen Grund, aus dem Diaghilew seine Gäste heute Abend eingeladen hat: Er möchte Anfang nächsten Jahres den Sacre wieder neu aufführen - acht Jahre nach seinem ersten Skandalerfolg. Diaghilew enthüllt sein Vorhaben zwischen den Gängen. Er äußert die Hoffnung, dass das Ballett diesmal länger laufen werde. Aber noch fehle die nötige Finanzierung, und die Aussichten seien nicht besonders gut. Sie brauchten dringend Sponsoren, fährt er fort. Der Abend und seine Gastfreundschaft bekommen dadurch etwas Dringliches.
Coco bemerkt, dass Igor mit einem Mal verzagt wirkt. Gespräche über den Sacre lassen seinen Kummer wieder aufleben. Erschauernd denkt er an jene turbulente Uraufführung zurück. Manche Kritiker haben seither seine Musik zu substanzloser Avantgarde erklärt. Als Opfer des Bolschewismus ist es ihm ein Gräuel, als Revolutionär bezeichnet zu werden, und sei es auch nur auf dem Gebiet der Kunst. Dieses Etikett hinterlässt einen bitteren Geschmack in seinem Mund. Andere hingegen betrachten seine Musik als reaktionär und bourgeois. Er kann nicht gewinnen. Niemand scheint gewillt, eine Wiederaufführung zu unterstützen. Schlimmer noch, seine Frau ist krank, seine Kinder wachsen im Exil auf, und seine Mutter ist immer noch in Russland, nachdem ihr ein Ausreisevisum verweigert wurde. Außerdem haben die Kommunisten seinen gesamten Besitz beschlagnahmt, seine Ersparnisse wurden eingezogen.
Durch Misia weiß Coco ein wenig von seiner misslichen Lage, und während sie ihn beobachtet, wird ihr klar, dass
sein ganzes dandyhaftes Gehabe nur Fassade ist. Dahinter verbergen sich eine tiefe Unsicherheit und ein schmerzhaftes Gefühl des Verlusts. Verlust der Heimat und des eigenen Ich. Dieser Mann sucht Halt, denkt sie.
Und dann bringt sie den Toast aus. Mit beiläufig anmutendem Ungestüm streckt sie Igor ihr Glas entgegen und sagt: »Auf den Sacre !«
Feierlich erheben alle ihre Gläser: »Auf den Sacre !«
Für eine Sekunde beherrscht Coco ihre Umgebung. Die Gläser klirren, schwingen nach wie der lang anhaltende reine Klang einer Stimmgabel, der nur langsam erstirbt.
Nachdem alle getrunken haben, folgt eine kurze Stille. Dann wird sich Igor allmählich der Stimmen bewusst, die sich rings um ihn erneut erheben, der Gespräche, die hastig wieder einsetzen, um die Leere zu füllen. Er legt ein paar Fischgräten auf einen gesonderten Teller.
»Ich war da, wissen Sie?«, sagt Coco.
»Wo?«
Sie flüstert beinahe. »Im Publikum. Bei der Uraufführung des Sacre .« Plötzlich scheint die Kerze zwischen ihnen die einzige Lichtquelle im Raum zu sein.
Sie erinnert sich an jenen explosiven Abend im Theater vor sieben Jahren und an die wilden, unbeherrschten Rhythmen, die ihr das Gefühl gaben, ihr Innerstes werde nach
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