Coco Chanel & Igor Strawinsky
außen gerissen. Sie kann kaum glauben, dass sie jetzt hier dem Mann gegenübersitzt, der für all das verantwortlich war.
»Tatsächlich? Was für ein Zufall.« Igor verzieht das Gesicht. Scham durchströmt ihn, noch eine Zeugin seiner Schmach.
»Ich kann mich noch genau daran erinnern.«
»Ich auch«, antwortet er verbittert.
»Komm schon«, mischt sich Diaghilew, der ihn gehört hat, ein, »das war das Beste, was uns passieren konnte.«
»Den Eindruck hatte ich damals nicht.«
»Wenigstens haben wir beide es überlebt«, sagt Coco.
»Ja.«
Diese Frau wirkt irritierend knabenhaft auf ihn. Da ist beispielsweise die herablassende Art, mit der sie ihre Austern schlürft. Sie erinnert ihn an die Heldinnen aus den Filmen von Charlie Chaplin. Sie hat das typisch südliche Temperament, die Redseligkeit und das Feuer. Und einen schroffen Kern, den späte Erziehungsbemühungen zu etwas Zartem, Vitalem poliert haben. Ihr Mund ist breit und ausdrucksstark. Ihre Haut funkelt und pulsiert vor Leben.
Er kann den Blick nicht von ihr abwenden, und sie weiß es. Trotzdem hört er kaum, was sie sagt. Zum Teil liegt es daran, dass er zu viel getrunken hat. Aber das ist es nicht allein. Beiden ist bewusst, dass etwas kaum Fassbares, etwas Wundervolles geschieht. Zwischen ihnen herrscht ein seltenes Einverständnis, eine innige Verbundenheit. Es dauert nur ein paar Sekunden, aber beide spüren ein eigenartiges Ziehen in ihrem Innern, ein Sehnen nach jenem Glück, das sie im anderen zu erkennen meinen.
»Auf den Sacre «, sagt Coco erneut, diesmal nur für Igor bestimmt. Sie fühlt, wie der Champagner prickelnd ihre Kehle hinabrinnt.
Während des restlichen Essens spricht sie ihn nicht mehr direkt an. Auch nicht danach, als sich die allgemeine Unterhaltung am Tisch fortsetzt. Es ist nicht nötig, denn jede beiläufige Bemerkung, jede ihrer Gesten, jedes Funkeln in ihren Augen gilt nur ihm allein. Ihr ganzes Wesen bietet sich ihm in einer Sprache dar, die über Worte hinausgeht.
Während Igor ihr glänzendes Haar betrachtet, ihre dunklen Augen und ihre leuchtenden Lippen, fühlt er, wie etwas in ihm aufsteigt, als wollte es ihn verschlingen. Die Perlen an
ihrem Hals schimmern milchig, und ihr verschmitztes Lächeln hat etwas Verführerisches. Ihre Nähe lässt sein Inneres glühen.
»Der Lehm war warm an dem Tag, als Gott sie schuf«, sagt Igor.
Nachdem die Gäste sich verabschiedet haben, ist er allein mit Diaghilew zurückgeblieben. Er spürt den vertrauten Rausch, in den er immer gerät, wenn er zu viel getrunken hat oder inspiriert ist. Cocos Bild schwelt in seiner Erinnerung. Seine Hitze verbindet sich mit der Wärme des Alkohols in seinem Magen.
Diaghilew schenkt ihnen zwei Brandys ein und zieht zwei dicke Zigarren aus einer Blechdose. Eine davon reicht er Igor. »Sie kommt vielleicht nicht aus dem besten Stall, aber sie ist reich, Igor. Reich«, vertraut er ihm lächelnd an, während er sich in einem breiten Sessel niederlässt. »Kannst du das Geld nicht riechen?« Genüsslich fährt er mit der Nase über seine Zigarre.
»Was meinst du damit, nicht aus dem besten Stall?« Igor zieht es vor, stehen zu bleiben, und lässt den Brandy langsam unterhalb seiner Taille kreisen.
»Na ja, sie wurde unehelich geboren - auch wenn sie das nie zugeben würde. Ihr Vater war ein Hausierer …«
»Ich war mir sicher, ich hätte sie sagen hören, er habe Pferde gehabt. Ich hatte angenommen, sie meinte ein Gestüt …«
»Und nach dem Tod ihrer Mutter kam sie in ein Waisenhaus, das von Nonnen geführt wurde - obwohl das Wort ›Waisenhaus‹ nie über ihre Lippen kommt.«
»Meine Güte.«
»Es geht das Gerücht«, Diaghilew senkt die Stimme, als er weiterspricht, »dass sie sogar ihren Brüdern Geld gibt, damit
sie sich von ihr fernhalten und sie so tun kann, als gäbe es sie gar nicht.«
»Nein!« Igor fühlt, wie der Brandy ein Loch in seinen Magen brennt.
»Sie ist Schneiderin«, sagt Diaghilew achselzuckend. »Sie spinnt gern Geschichten zusammen.«
»Das ist unglaublich!«
Mit der Zigarre in der Hand streicht sich Diaghilew mit gekrümmtem Zeigefinger über den Schnurrbart. »Ich nehme an, sie musste skrupellos sein, um solchen Erfolg zu haben.«
»Aber ich verstehe immer noch nicht, wie sie so reich werden konnte.«
»Sie hat sich offenbar eine Zeit lang von Männern aushalten lassen - die meisten davon im Zehnten Jägerregiment zu Pferde, glaube ich! Dann fing sie an, Hüte und Kleider zu entwerfen, und
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