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Coco Chanel & Igor Strawinsky

Titel: Coco Chanel & Igor Strawinsky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Greenhalgh
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freischmolz. Und für einen Moment lebt in seinem Kopf eine untergegangene Welt wieder auf. Wie durch ein Guckloch sieht er mit einem Mal seine Kindheit vor sich: Spaziergänge über den Newski-Prospekt, Elchschlitten und den Lichtschein eines Porzellanofens in der Ecke seines
alten Zimmers. Wie auf einer Miniaturbühne sieht er Sankt Petersburg, in dessen Nähe er geboren ist: den Turm der Admiralität und das Mariinski-Theater mit seiner Kuppel und seinen erlesenen Gerüchen. Plötzlich kommt alles wieder zurück. Einzelne Fragmente nehmen Gestalt an wie die Bühnenbild-Elemente, die den Krjukow-Kanal hinunter zum Theater transportiert wurden. Und mit diesen flüchtigen Bildern weht auch der Teergestank heran, der nasse Fellgeruch seiner Mütze und der charakteristische Duft des Machorka-Tabaks, der die Straßen erfüllte. Begleitet, ja übertönt werden diese Gerüche von den Geräuschen der Stadt: dem Rasseln der Straßenbahnen, den Rufen der Straßenhändler, den holprigen Rhythmen metallbeschlagener Räder auf den Pflastersteinen und dem unvermittelten Knallen einer Peitsche.
    Ohne Vorwarnung erschüttert ein Donnern das Zimmer. Igor spürt, wie das Fenster an seiner Stirn erzittert. Im Nu schließt sich das Guckloch. Die Gerüche verwehen, die Rhythmen verklingen, und jäh wird ihm wieder bewusst, wo er sich befindet: in einem billigen Hotel, mit seiner Familie im Exil, und es ist sein Atem, der in dem kalten Zimmer das Glas beschlagen lässt.
    Jekaterina kommt aus dem Schlafzimmer und gibt Igor ein mit zahlreichen Anmerkungen versehenes Manuskript.
    »Wie findest du es?«
    »Ich habe alles an den Rand geschrieben.«
    Er sieht sie fragend an.
    »Es ist gut.«
    »Nur gut?«
    »Es ist zu beherrscht«, räumt sie ein. »Ihm fehlt Energie. Mehr Leidenschaft.«
    Er blättert durch die Seiten, liest einige ihrer Anmerkungen und schaut etwas verletzt wieder auf.

    »Du willst doch, dass ich ehrlich bin, oder nicht?«
    »Dir entgeht auch gar nichts, was?«
    »Ich habe Hun-ger«, jammert Soulima.
     
    Wieder fällt Regen auf Paris und das Umland. Ein klammer Geruch erfüllt die Stadt. Straßenlaternen werfen verschwommene Lichtkränze aufs Pflaster. Igor tritt in den Widerschein einer Lampe und schüttelt seinen Regenschirm aus.
    Pünktlich wie immer läutet er Schlag acht Uhr bei Diaghilew. Er entschuldigt seine Frau, sie fühlt sich nicht wohl und konnte nicht mitkommen. »Das feuchte Wetter tut ihr nicht gut«, sagt er, »und die Kleine, Milena, ist auch gerade krank.«
    Igor hingegen fühlt sich durch den heftigen Regenguss wie neu belebt. Frühlingsregen hat immer diese Wirkung auf ihn - dieses Gefühl der Erneuerung und den unwiderstehlichen, von frischen Blüten und dem Duft jungen Grases bestärkten Eindruck, dass alles um ihn herum brodelt. Er wischt ein paar Regentropfen von seiner Brille und streicht sich das Haar zurück.
    »Hier, das vertreibt die Kälte …«, sagt Diaghilew und reicht ihm ein Glas Wein.
    »Danke«, antwortet er und steckt sein Taschentuch ins Jackett zurück.
    Die meisten Gäste heute Abend sind Emigranten, Künstler, die mit dem Russischen Ballett in Verbindung stehen. Außerdem der katalanische Maler José Maria Sert und seine französische Frau Misia. Sert, ein leidenschaftlicher Mann mit aristokratischem Charme, kommt herüber und schüttelt ihm schwungvoll die Hand. »Schön, Sie wiederzusehen.« Sein Mund öffnet sich wie ein Spalt in seinem Bart.
    »Freut mich ebenfalls«, erwidert Igor.
    Misia tritt zu ihnen. Sie ist seit Jahren fester Bestandteil
der mondänen Gesellschaft, und ihr Reichtum und ihre Schönheit haben sie sehr einflussreich werden lassen, auch wenn man ihr in Künstlerkreisen misstraut. Viele verachten sie als eine schlangenzüngige Person, die sich ständig in fremde Angelegenheiten einmischt, aber Igor gegenüber ist sie immer freundlich gewesen, und sie hat ihm geholfen, die schweren Monate zu Beginn seines Exils zu überbrücken. Sie begrüßen einander mit Respekt und einem leisen Lauern. Er küsst sie ehrfurchtsvoll wie ein Untertan, der seiner Königin vorgestellt wird, und sie nimmt den Kuss mit einer Spur von Besitzanspruch entgegen.
    »Wie ich sehe, ist Ihr Mann auch hier«, sagt Igor.
    »Welchen meinen Sie?«, fragt sie lachend.
    Coco kommt eine Stunde zu spät, als sie gerade mit dem Essen anfangen wollen. Ihre Verspätung ist besonders unhöflich, da sie von allen Gästen den kürzesten Weg hat. Die Rue Cambon, wo sie wohnt, verläuft parallel zur Rue

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