Coco Chanel & Igor Strawinsky
de Castiglione, in der Diaghilews Wohnung liegt. Sie entschuldigt sich entsprechend überschwänglich und in einem schnellen Französisch, dem Igor nur mit Mühe folgen kann. Sie hat den Fahrer früh nach Hause geschickt, sagt sie, weil sie vorhatte, zu Fuß zu kommen. Doch dann wurde das Wetter so scheußlich, dass sie warten wollte, bis es zu regnen aufhörte, aber das tat es natürlich nicht. Sie zuckt gewinnend die Achseln, und ihr wird verziehen. Ein Dienstmädchen nimmt ihr Hut und Mantel ab. Ihr Haar hat die gleiche Farbe wie ihr schwarzes Kleid.
Coco und Misia sind alte Freundinnen und begrüßen einander mit schwesterlichen Küssen. Diaghilew umarmt sie. Sie haben sich im vergangenen Sommer durch die Serts in Venedig kennengelernt. »Es freut mich sehr, dass Sie kommen konnten.« Für einen so fülligen Mann ist seine Stimme erstaunlich hoch, erinnert sich Coco.
Er hat zugenommen, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hat. Die zahlreichen Ringe schneiden in seine rundlichen Finger, und ein üppiges Doppelkinn ruht auf seiner Krawatte, die am Hals mit einer dicken schwarzen Perle geschlossen ist. Als er sich vorbeugt, um ihre Hand zu küssen, bemerkt sie den weißen Streifen, der sich wie ein Riss durch sein dunkles Haar zieht.
Er schlägt vor, mit dem Essen noch zu warten, bis Coco sich abgetrocknet hat. Aber sie will nichts davon hören.
»Dann nehmen Sie wenigstens ein Handtuch für Ihr Gesicht und Ihre Hände.«
Blinzelnd tupft sie sich das gerötete Gesicht ab und rubbelt energisch ihre Hände trocken. Währenddessen stellt Diaghilew sie den übrigen Gästen vor. »Darf ich alle, die sie noch nicht kennen, mit Gabrielle Chanel bekannt machen? Sie entwirft ganz und gar hinreißende Kleider.«
»Sie sind zu freundlich.«
Diese Ansammlung talentierter Menschen macht sie nervös, doch äußerlich wirkt sie ungezwungen, lebhaft und dynamisch.
»Was können Sie uns denn über die neueste Mode berichten?«, fragt Diaghilew und bietet ihr damit einen Einstieg ins Gespräch.
»Die Säume verschieben sich nach oben und die Taillen nach unten«, antwortet sie, während sie ihren Strickrock hochzieht.
»Dann wollen wir doch hoffen, dass sie sich bald begegnen«, kommentiert José, was ihm einen Rippenstoß von Misia und lautes Gelächter der übrigen Gäste einträgt.
Cocos Platz ist gegenüber von Igor, und er steht auf, um ihr über den Tisch hinweg die Hand zu geben. Vor sich sieht er eine attraktive schwarzhaarige Frau mit schwarzen Augenbrauen,
einem breiten Mund und einer Stupsnase. Als sich ihre Handflächen berühren, spürt er, wie ein schwacher Stromstoß durch seinen Körper schießt. Seine Finger kribbeln von einem leichten elektrischen Schlag. Er blickt erst auf seine aufgeladene Hand, dann schaut er verwundert zu Coco. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie ihre Hände gerade am Handtuch abgerieben hat, vermutet er.
Coco sieht, wie er kurz zurückschreckt, und überlegt, ob das ein Scherz sein soll. Fragend sieht sie ihn an. Ihr erster Eindruck von ihm ist der eines Mannes, der zu angestrengt versucht, wie ein Künstler zu erscheinen. Sie findet sein Halstuch zu grell. Die Zigarettenspitze wirkt dandyhaft, genau wie das Monokel, das er sich gerade ins Auge geklemmt hat.
»Überall, wo ich hinschaue, sehe ich Ihren Namen«, sagt er und fasst ihre Hand wieder fester.
»Und ich höre ununterbrochen den Ihren.«
Er ist genauso klein, wie sie ihn seit jenem Abend vor sieben Jahren in Erinnerung hat, vielleicht inzwischen ein bisschen kahler. Als sie ihm so dicht gegenübersteht, fällt ihr auf, dass er schlechte Zähne hat und schmallippig lächelt, um es zu verbergen. Aber bewundernd bemerkt sie seine großen Hände und kräftigen Fingerknöchel, seine langen, sauber manikürten Finger. Er hat die geschrubbten weißen Hände eines Klinikarztes - im Gegensatz zu ihren eigenen, die durch das jahrelange Nähen rau geworden sind.
Mit vollendeter Höflichkeit drückt Igor ihre Finger an seine Lippen. Sie starren einander einen Moment an wie Fremde in der Métro. Von ihrem Lächeln schwirrt ihm der Kopf. Sie spürt seinen Widerwillen, ihre Hand loszulassen. »Das sieht ja fantastisch aus«, stößt sie verlegen hervor.
Der Tisch zwischen ihnen ist für ein wahres Festmahl gedeckt. An jedem Platz liegt reichlich Silberbesteck. An beiden
Enden der Tafel drängen sich Wodkaflaschen und Karaffen mit Wein. Massige Whiskey-Dekanter in Gestalt des Kremls stehen in der Mitte.
Zwei Dienstmädchen
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