Codename Merlin - 3
können − und was er dort gesehen hatte, musste ihn zutiefst erschreckt haben. Doch im Gegensatz zu Dynnys hatte er noch die Möglichkeit, auch schon in dieser Welt von jener neu gewonnenen Erkenntnis zu profitieren, nicht erst in der nächsten. Er konnte selbst auswählen, welche Entscheidungen er in der ihm noch verbleibenden Lebenszeit treffen würde, und es erschien Staynair offensichtlich, dass Ahdymsyn diese Möglichkeit als ebenso erschreckend wie tröstlich empfand. Er musste ebenso mit seiner eigenen Scham leben wie mit der Gelegenheit, Abbitte zu tun.
Für den jungen Wylsynn hingegen musste sich die Lage völlig anders darstellen, wenngleich nicht weniger erschütternd. Staynair wusste besser als die meisten anderen, dass Wylsynn sich nur wenigen Illusionen darüber hingegeben hatte, wie oft das Handeln der Kirche den wahren Geist der Heiligen Schrift verriet. Doch das Ausmaß der Korruption und die Mühen, die auf sich zu nehmen die ›Vierer-Gruppe‹ bereit gewesen war, musste ihn getroffen haben wie ein Vorschlaghammer. Und im Gegensatz zu Dynnys und Ahdymsyn hatte Paityr Wylsynn niemals vergessen, dass er ein Priester Gottes war, hatte sich durch die allgegenwärtige Korruption niemals von seinen priesterlichen Pflichten ablenken lassen.
Und jetzt musste einer der untadeligsten Diener von Mutter Kirche, die Staynair jemals kennen gelernt hatte, von einem gefallenen Erzbischof, dessen Verderbtheit Wylsynn schon seit Langem bekannt gewesen sein musste, die Anweisung entgegennehmen, Mutter Kirche den Rücken zuzuwenden. Ihr jegliche Autorität abzusprechen, sämtliche ihrer Forderungen zurückzuweisen. Eines der zahlreichen Opfer der Inquisition forderte einen Priester der Inquisition auf, sich dem Großinquisitor selbst entgegenzustellen.
»Gott erbarme sich Seines wahrhaftigen Dieners Erayk«, murmelte Staynair und legte die Finger erst an sein Herz, dann an die Lippen.
»Amen«, antworteten Ahdymsyn und Wylsynn gleichzeitig »Erzbischof Erayks Schicksal entsetzt und bestürzt mich«, erklärte Staynair dann. »Und doch hat er, am Ende seines Lebens, Gott in einer Art und Weise erkannt und sich ihm so weit genähert, wie es nur wenigen von uns jemals vergönnt ist.
Dennoch muss ich Ihnen beiden sagen, dass es einen Punkt der Kirchenlehre gibt, bei dem ich zusammen mit der gesamten Kirche von Charis gänzlich den Doktrinen des Rats der Vikare widersprechen muss. Es geht dabei um das Recht − und die Pflicht − eines jeden Kindes Gottes, für sich selbst zu entscheiden, was wahrhaft recht ist und was das für ihn oder sie bedeutet. Die Aufgabe der Kirche ist es nicht, das verbindlich vorzuschreiben, sondern zu lehren − zu erklären und nahezubringen. Es ist die Aufgabe des Einzelnen, aus freiem Willen Gott zu lieben und zu tun, was recht ist, eben weil es recht ist, und nicht, weil ihm oder ihr keine andere Wahl bleibt.«
Wylsynn rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her, und Staynair blickte ihn schweigend an.
»Ich sage Ihnen das, Pater Paiter, weil ich mich weigere, Sie oder irgendjemand anderen über meine Sicht dieser Dinge in die Irre zu führen oder im Unklaren zu lassen. Kein Mann und keine Frau kann sich wahrlich dafür entscheiden, Gott zu dienen, solange es ihnen nicht auch frei steht, sich zu weigern, ihm zu dienen, und Gott wünscht sich von Seinem Volk, dass es offenen Auges und frohen Herzens zu ihm kommt und nicht voller Furcht vor der Inquisition und der ewigen Verdammnis. Ich habe die Absicht, es allen deutlich kundzutun, dass ich mich weigere, die Macht dieses Amtes dazu zu missbrauchen, dem Gewissen eines jeden Priesters und eines jeden Laien Vorschriften zu machen. Auf genau jenem Wege liegen die Korruption und dieser beiläufige Machtmissbrauch ›im Namen Gottes‹, die zum Bruch mit dem Rat der Vikare geführt haben. Wenn Mutter Kirche beschließt, sie könne befehlen, was immer sie von ihren Kindern ersehnt, dann befindet sich ihre gesamte Priesterschaft schon fest auf dem Pfad in die Finsternis. Als Erzbischof und damit Oberhaupt der kirchlichen Hierarchie hier in Charis mag ich Vorgehensweisen festlegen, ich kann Entscheidungen treffen und der Gesamtheit sowohl der Bischöfe als auch der Priester Anweisungen erteilen. Und sollten diese Anweisungen missachtet oder übertreten werden, habe ich das Recht und die Pflicht, all jene ihren jeweiligen Ämtern zu entheben, die mir nicht guten Gewissens folgen können, auf gleichwelcher Stufe der kirchlichen Hierarchie
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