Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden
Dunkelheit so undurchdringlich, als bestünde sie aus fester Materie.
Richard Phillips, die Geisel, war jetzt wach oder schlief zumindest nicht mehr so fest. Er hatte die Streitereien den ganzen Tag über ignoriert. Er versuchte, gelassen zu bleiben und sich möglichst ruhig zu verhalten. Er verstand die fremdartigen Laute nicht, die die Piraten von sich gaben, doch er wusste genau, was los war. Ihre Stimmung war leicht zu deuten.
Als die Luke offen stand, hatte Phillips jedes leiseste Lüftchen genossen. Die Hitze hatte inzwischen nachgelassen, doch im Boot war es trotzdem nicht angenehm. Seit er an Bord war, hatte er gelitten. Die Temperatur war nur in den frühen Morgenstunden erträglich, ein paar Minuten lang, bevor eine dunstige, klamme Kälte einsetzte. Dann ging die Sonne auf und brannte gnadenlos auf das Boot herunter, sodass ihm die Hitze im Inneren förmlich in den Ohren klang. Er zählte die Stunden von Nacht zu Nacht und sagte sich, wenn er nur die Tage überstünde, würden die Nächte ein Kinderspiel. Seine Bewacher blieben die ganze Nacht auf, spähten und lauschten, doch unternahmen nichts. Er konnte sich hinlegen, spitzte zwar ebenfalls die Ohren, doch anders als seine Peiniger konnte er eindösen – und auf das hoffen, wovor sie solche Angst hatten.
Doch an diesem Abend war alles anders. Abduwali, der Englisch konnte, hatte sich abgesetzt. Die Stimmung war angespannt. Die Spannung auf dem Boot war den ganzen Nachmittag über gestiegen und so greifbar wie hüfthohes Leckwasser. Phillips hatte die Augen geöffnet und verfolgt, wie Ghadi ins Funkgerät geplärrt hatte. Er wunderte sich, dass man ihn nicht kommunizieren ließ. Aber sie hätten ihm ohnehin nicht begreiflich machen können, was er sagen sollte. Und sie hätten ihn auch nicht hinter die Runge gelassen. Er wurde an der vorderen Steuerbordbank festgehalten – die ganze Zeit über, seit er aus der Luke ins Wasser gesprungen war. Dort musste er bleiben. Auch zum Pinkeln. Dazu gaben sie ihm einen Schöpfeimer. Nicht, dass er ihn häufig gebraucht hätte. Phillips drehte sich langsam auf die Seite. Vorne ragte Erastos Kopf aus der Luke. Er stand breitbeinig da und schwankte, während sich das Boot hob und senkte. Phillips beobachtete ihn eine Weile und stierte dann bewusst auf die leere Bootswand. Seine Handgelenke brannten und seine Knöchel waren wund gescheuert. Seine Hüften und Beine waren steif und schmerzten. Er wäre gerne aufgestanden, doch er konnte sich jetzt nicht mehr sicher auf dem Boot bewegen. Sie standen alle unter Strom, das war Phillips klar. In der Dämmerung waren sie immer besonders nervös, besonders kurz nach Sonnenuntergang und kurz vor dem Sonnenaufgang. Dann hielt der Älteste alle anderen wach … und bestand manchmal sogar darauf, dass sich auch Philipps aufrecht hinsetzte. Jetzt konnte er unmöglich aufstehen und sich strecken, ohne Unruhe auszulösen. Wenn die Nacht kam, musste er sich still verhalten. Vielleicht beruhigten sie sich ja, wenn der Mond aufging und sie wieder etwas sehen konnten.
Nadif lehnte vor der Luke an der Wand. Sein Kopf berührte gerade so das Oberdeck. Er stand hinter dem Steuerrad und der Steuerkonsole, einen oder eineinhalb Meter hinter der Windschutzscheibe. Der orangefarbene Bug wippte auf nieder und ab und zu auch nach rechts oder links, während er durchs Wasser pflügte. Nadif konnte das Heck des Schiffes erkennen, allerdings nur sehr schemenhaft. Zwischendurch konnte er es kaum noch sehen. Er wusste, dass es da war, doch es war so flüchtig wie ein Wolkenschatten.
Er schaute durch die Luke in den Himmel. Ein paar vereinzelte Sterne blinkten hinter den Wolken auf. Nadif wusste, dass da oben Flugzeuge waren. Und Hubschrauber. Sie waren schon zweimal über sie hinweggeflogen und hatten das Boot einmal in blendendes Licht getaucht. Nadif war sicher, sie waren da, auch wenn er sie nicht hören konnte. Selbst wenn er den Kopf aus der Steuerbrücke steckte und in den Windschatten hielt, hörte er nur den Wind an seinem Ohr, und das ständige Plätschern das Wassers von beiden Seiten.
Nadif zog sich zurück. Wut stieg wieder in ihm hoch.
„Wer hat Leuchtspurmunition?“, fragte er.
Erasto und Ghadi rührten sich nicht.
„Gib schon her, du Idiot“, blaffte er Ghadi an.
Der Schatten, der ihm am nächsten stand, drückte auf einen Hebel am Abzugsbügel seiner AK-47 und reichte ihm das Magazin. Im Bug hörte Phillips das Klicken – ein harter metallischer Klang im Glasfaserkokon.
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