Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden
arbeitet mit einem Beobachter, dem „Spotter“, der auch selbst Scharfschütze ist. Seine Aufgabe besteht darin, dem primären Schützen Deckung zu geben, die Kommunikation zu übernehmen und die Feuerinformationen zu aktualisieren. In einem festen Versteck, dem sogenannten „Stoop“, behält der Beobachter in der Regel das Zielobjekt durch einen leistungsstarken optischen Sucher im Auge. Im TACTAS-Raum waren die Scharfschützen „eingeschraubt“. Das hieß, sie hatten einen fest eingerichteten, maßgeschneiderten Schießstand. Die so postierten, ausgerichteten Scharfschützen konnten jeden der Männer auf dem Beiboot am Gesicht und an seinen Bewegungen erkennen. Sie kannten sie alle und verfolgten laufend, wo sich jeder Einzelne auf dem Boot aufhielt. Das Rettungsboot war zehn Meter lang und 1,80 Meter breit. Auf ihm ruhten rund um die Uhr drei Augenpaare – und drei Finger lagen am Abzug.
Das Kommando über die Scharfschützenzelle hatte Master Chief Mel Hoyle, ein Bär von einem Mann, der sich langsam und behäbig bewegte und seiner Aussprache nach eindeutig aus West Virginia stammte. Mel ist ein SEAL-Veteran mit 25 Dienstjahren. 19 davon war er Einsatzkraft im Team 6 – erst als „Türeintreter“ eines Sturmtrupps, mit dem er an der Gefangennahme von Abu Abbas beteiligt war. Später wurde er zur Scharfschützenausbildung beim British Special Air Service ausgewählt. Mel ist ein reizbarer Mensch, der hohe Anforderungen stellt und in dem Ruf steht, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Und mit dem, was er sagt, hat er meistens recht. Seit dem Absprung hatte Mel die Postierung des Scharfschützenteams beaufsichtigt, das sich im TACTAS-Raum abwechselte. Ein weiteres Zweierteam stand mit fünf Minuten Vorlaufzeit auf Abruf mit einem Hubschrauber vom Typ Seahawk auf der USS Boxer bereit. Mel und sein Senior Petty Officer John Hall übernahmen immer wieder selbst Schichten in allen Funktionen – hinter den Suchern an der Waffe, aber auch sechsstündige Wachen im TOC. Mel war kräftig, doch man sah ihn nie essen. Soweit es seine Teamkameraden beurteilen konnten, lebte er von Koffein und Nikotin. Er hatte immer eine Tasse Kaffee in der Hand und eine Prise Copenhagen-Kautabak hinter der Unterlippe. In den vergangenen fünf Tagen hatte Mel insgesamt höchstens zehn Stunden geschlafen – meist auf dem schwankenden Deck im TACTAS-Raum.
In der Navy heißt es, ein Offizier kann nichts tun, was sich nicht ein Chief vorher ausgedacht hat. Als Greg Wilson und Frank Costello ihre Besprechung in der Kabine beendet hatten, betrat Mel das TOC. Er konnte dem Skipper vom Gesicht ablesen, was los war. Es war 17.45 Uhr, Ostersonntag, und das Tageslicht schwand. Noch 24 Minuten würde nautische Dämmerung herrschen und dann Dunkelheit.
Mel Hoyle berichtete, seit Abduwali Muse übergelaufen sei, verhielten sich die anderen wie Präriehunde, steckten nur ab und zu die Köpfe aus der Luke und warfen prüfende Blicke über die Steuerbrücke. Sie funkten von Brücke zu Brücke. Auf Kanal 13 knackte es und die Stimme von Zielperson Delta (Ghadi) war zu hören. Was er sagte, war nahezu unverständlich – ein paar Brocken genervtes, gebrochenes Englisch und immer wieder der Name Abduwalis, wie von einem Endlosband.
„Sie wollen ihren Spielkameraden zurückhaben“, sagte Wilson.
„Den kriegen sie nicht“, meinte Mel ruhig.
Oben im Kommandostand wurde das Rettungsboot auf ein halbes Dutzend Monitore projiziert – aus ebenso vielen Blickwinkeln. Da stand jemand in der Luke und menschliche Umrisse huschten hinter den Fenstern der Steuerbrücke vorbei. Das Tageslicht schwand schnell. Eine dicke Wolkenschicht verbarg die Sterne. Es war beinahe Vollmond. Die letzten vier Nächte hatte der Mond das Meer so hell erleuchtet wie einen Parkplatz. Doch heute würde er nicht vor 20.00 Uhr aufgehen.
Dem Team blieben zwei Stunden fast vollständiger, undurchdringlicher Finsternis.
Wilson, Costello und Mel standen da und verfolgten, was auf den Bildschirmen vor sich ging. Einer übermittelte Bilder direkt von der Steuerbrücke. Dort standen zwei Männer nebeneinander und gestikulierten. Offensichtlich stritten sie. Die Männer auf der Bainbridge beobachteten, wie der eine hinausging und hinten aus der Luke schaute. Der Kopf, der in der Luke auftauchte, duckte sich weg und kam wieder hoch.
Wilson sagte: „Wie sehen Sie das?“
„Wir haben sie, Skipper“, sagte Mel. „Wir haben sie.“
„Der Seegang nimmt zu. Um 2200 haben wir
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