Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden
Windstärke 3“, meinte Costello. „Die Dünung baut sich schon auf.“
Das Schiff lag stabil auf dem Wasser, Dünung und Wind waren nicht besonders stark, doch hin und wieder spürten sie, wie sich das Deck unter ihren Füßen hob und senkte. Es war jetzt mehrere Tage lang ruhig gewesen, doch so würde es nicht ewig bleiben. Sie mussten die Sache zu Ende bringen.
Wilson lehnte in der Offiziersmesse mit gekreuzten Beinen an der Tischkante und stützte sich mit den Händen auf. Er schaute auf das Rettungsboot und auf die Positionen seiner Passagiere. Er hatte eine Woche lang kaum geschlafen und wie Mel hauptsächlich von Koffein gelebt – jedoch ohne die verstärkende Wirkung des Kautabaks. Wilson zwang sich, ruhig zu überlegen und die Positionen aller seiner Teams genau zu verinnerlichen. In seinem Kopf entstand ein umfassendes dreidimensionales Bild von dem Rettungsboot, den Sturmbooten, dem Zerstörer, dem Flugzeugträger und dem U-Boot. Wilson war Absolvent des Navy War Colleges und der Naval Postgraduate School. Er hatte Mahan, Groschkow und von Clausewitz studiert, die sich in einer Sache vollkommen einig waren: Es war zwar gefährlich, aber notwendig, sich auszurechnen, was der Feind tun würde. Greg Wilson konnte sich dabei auf das Verhalten der Piraten in den letzten fünf Tagen stützen. Mehr hatte er nicht. Er hatte den Druck ständig erhöht. Die Stimmung auf dem Rettungsboot war zum Zerreißen gespannt, so viel wusste er. Und er wusste auch, dass er nicht davon ausgehen konnte, dass sich die Piraten rational verhalten würden. Nichts war berechenbar. Aber man konnte einiges voraussetzen.
Wilson versetzte sich in die Lage der Piraten. Sie hatten schon einen Mann verloren und jetzt wurde es dunkel. Sie selbst schlugen gewöhnlich in der Nacht zu, und sie wussten, dass der Mond erst in über zwei Stunden aufgehen würde. Was würden sie tun?
Sie waren gereizt.
Waren sie so gereizt, dass sie die Geisel töten würden?
Nein. Das wäre ihr Tod, und sterben wollten sie ganz gewiss nicht. Wenn es sein musste, würden sie ihr Leben aufs Spiel setzen, doch nicht ohne Not. Wenn sie die Geisel erschossen, wären sie erledigt, das war ihnen klar.
Vorherzusagen, was der Gegner tun wird, ist mehr Kunst als Wissenschaft. Das erinnerte Wilson an Miyamoto Musashi, einen japanischen Samurai, der im 16. Jahrhundert gelebt und einen Leitfaden fürs Leben und für die Kunst des Kendo verfasst hatte. Die Maximen aus Das Buch der Fünf Ringe wurden in Naval Special Warfare oft zitiert. Sogar Banker und Geschäftsleute hatten sie für sich entdeckt, doch Wilson ließ sich ihre Aussage nicht durch ihre neuesten Fans verwässern. Er sah zu, wie sich das Rettungsboot in der Lowlight-Ansicht hob und senkte. Er stellte sich vor, er wäre an Bord. Er überlegte, was er wohl sehen würde in so einer diesigen, dunklen, mondlosen Nacht … Nicht viel vermutlich. Da schoss ihm einer der Leitsätze aus dem Buch der Fünf Ringe durch den Kopf: „Es ist wichtig, nach beiden Seiten sehen zu können, ohne die Augäpfel zu bewegen.“
Wilson wusste, er konnte das.
Die Piraten konnten es nicht.
„Wir machen ein Fenster auf“, sagte Wilson.
Ein „Fenster“ war eine Zeitspanne, in der die Scharfschützen Schusserlaubnis bekamen.
Wilson sah zu Mel Hoyle hinüber. Der Master Chief und der Kapitän kannten sich schon fast 20 Jahre. Sie waren Kameraden, aber nicht immer Freunde.
„Könnt ihr zu dritt alle drei ausschalten?“
„Das sind 25 Meter, Skipper.“
„Drei auf einmal, Mel. Ich kenne die Distanz“, meinte Wilson.
Im TOC wurde es still. Die Ventilatoren summten. Die Techniker und Wachoffiziere an den Rechnern und Laptops rührten sich nicht. Frank Costello verschränkte die Arme. Mel Hoyle, der harte Master Chief, der König der Scharfschützen, war voll konzentriert, doch das sah man ihm nicht an. Unter dem Walrossbart verzogen sich seine Lippen – eher zu einem schiefen Grinsen als zu einem Lächeln.
„Das kriegen wir hin“, sagte er.
Inzwischen war es stockfinster. Das einzige Licht auf dem Rettungsboot spendete die winzige digitale Anzeige am Funkgerät, die die Ziffernfolge „13“ bildete. Sie warf einen schwachen grünlichen Schimmer auf die Steuerkonsole. Alles andere lag im Dunklen. Auf der Steuerbrücke des Rettungsboots war es nicht so dunkel wie unter dem Vorderdeck, doch nur, weil die schwarze Nacht durch die Fenster etwas heller wirkte. Weiter vorne, auf den Bänken an Steuerbord, war die
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