Codex Alera 06: Der erste Fürst
erreicht hatten und freie Sicht auf eine Vordlandschaft hatten, die sich vor ihnen erstreckte, einen Moment lang mit dem Rücken zum kleinen Wehrhof stehen. »Liebe wird unter deinesgleichen nicht immer erwidert.«
»Nein«, sagte Invidia schlicht.
»Wenn sie nicht erwidert wird«, sagte die Königin, »fügt das dem, der liebt, eine Art Schmerz zu.«
»Ja.«
»Das ist unvernünftig«, sagte die Königin – und zu Invidias Entsetzen wohnte ihren Worten unterdrückte Hitzigkeit inne. Wut. Die Vordkönigin war wütend.
Invidia spürte, wie ihr der Mund trocken wurde.
»Unvernünftig«, sagte die Königin. Ihre Finger zuckten, und die Nägel wuchsen und schrumpften abwechselnd. »Verschwenderisch. Unwirtschaftlich.«
Invidia sagte nichts.
Die Vordkönigin wirbelte jäh herum, so schnell, dass Invidia der Bewegung kaum mit Blicken folgen konnte. Sie starrte Invidia aus undurchschaubaren, fremdartigen Augen an. Invidia konnte ihr eigenes Spiegelbild tausendfach darin sehen. Es war das Bild einer bleichen, halb verhungerten Frau mit dunklem Haar, die nur einen Panzer aus Vordchitin trug, der so eng anlag wie ihre eigene Haut.
»Morgen«, sagte die Vordkönigin, und schwelender Zorn erfüllte den sonst ausdruckslosen Tonfall ihrer Stimme, »werden du und ich ein Abendessen einnehmen. Gemeinsam.«
Dann drehte sie sich um und verschwand in einem Wirbel grüner Seide in den endlosen sanften Wellen des Kroatsch .
Invidia kämpfte gegen das Entsetzen an, das sich in ihrem Magen ausbreitete. Sie starrte wieder auf die Ansammlung von Hütten hinab. Von ihrem Standort auf dem Hügel aus sah der Wehrhof wunderschön aus, mit Elementarlampen, die in den Häusern und auf dem kleinen Platz dazwischen glommen. Ein Pferd wieherte auf einer nahen Weide. Ein Hund bellte mehrfach. Die Bäume, die Hütten, alles wirkte so makellos. Wie Puppenhäuser.
Invidia bemühte sich, ein Auflachen zu unterdrücken, das durch den Wahnsinn der vergangenen Monate aufzusteigen drohte; sie hatte Angst, dass sie nicht mehr würde aufhören können, wenn sie einmal zu lachen begann.
Puppenhäuser.
Die Vordkönigin war schließlich noch keine neun Jahre alt. Vielleicht waren sie also tatsächlich nur Spielzeug für sie.
Varg, Kriegsführer des verlorenen Landes Narash, hörte den vertrauten Klang der Schritte seines Welpen auf dem Deck der Treues Blut , des Flaggschiffs der Flotte von Narash. Er zog in grimmiger Erheiterung die Lefzen zurück und entblößte seine Zähne. Konnte das überhaupt noch das Flaggschiff der Flotte von Narash sein, wenn es Narash selbst nicht mehr gab? Dem Kodex und dem Gesetz nach bildete sie das letzte Stück unabhängigen narashanischen Gebiets in ganz Carna. Aber konnte der Gesetzeskodex von Narash tatsächlich als Gesetz betrachtet werden, wenn es kein Gebiet mehr gab, in dem er galt? Wenn nicht, dann war die Treues Blut nicht mehr als Holz, Tauwerk und Segel. Es gehörte keiner Nation an und hatte keine Bedeutung mehr, sondern war einfach nur ein Fortbewegungsmittel.
Genau wie Varg selbst keine Bedeutung mehr hatte – ein Kriegsführer, der kein Gebiet mehr schützen konnte.
Bitterer Zorn loderte einen Augenblick lang wie eine Feuergarbe in ihm auf, und die weißen Wolken und das blaue Meer, die er durchs Fenster der Kajüte sehen konnte, wurden schlagartig rot. Die Vord. Die verfluchten Vord. Sie hatten seine Heimat zerstört und sein Volk ermordet. Von den Millionen von Narashanern hatten weniger als hunderttausend überlebt – und er würde die Vord für ihre Taten zur Verantwortung ziehen.
Er zügelte seinen Zorn, bevor er ihn in den Blutrausch treiben konnte, und atmete tief ein und aus, bis die normalen Farben des Tageslichts zurückkehrten. Die Vord würden bezahlen. Zur rechten Zeit und am rechten Ort würde er Rache nehmen, aber nicht hier und jetzt.
Er berührte mit einer Krallenspitze die Buchseite und blätterte vorsichtig zur nächsten um. Es war ein zartes Kunstwerk, dieses aleranische Buch, ein Geschenk von Tavar. Wie der junge aleranische Dämon war es winzig und zerbrechlich und enthielt zugleich viel mehr, als das Äußere ahnen ließ. Wenn nur die Buchstaben nicht so winzig gedruckt gewesen wären! So war das Lesen fürchterlich anstrengend für Vargs Augen. Man musste sich das Ding bei Tageslicht vornehmen. Mit einer ordentlichen mattroten Lampe konnte er überhaupt nichts erkennen.
Jemand kratzte höflich an der Tür.
»Herein«, grollte Varg, und sein Welpe, Nasaug, betrat die
Weitere Kostenlose Bücher