Codex Alera 06: Der erste Fürst
bleiben sollen.«
»Mir ist aufgefallen, dass Leute, die so daherreden wie du, selten bereit sind, sich selbst zu denen zu rechnen, die geopfert werden müssen.«
Ein wütendes Knurren drang aus Khrals Kehle, und eine Pfotenhand sauste zu einem der Beutel, die er an der Hüfte trug.
Varg richtete sich noch nicht einmal aus der Hocke auf. Seine Arme bewegten sich und drehten sich im Schultergelenk mit sehniger Kraft, als er das aleranische Buch nach Khral warf. Es segelte in einer verschwommenen Drehbewegung durch die Luft, und der harte Buchrücken traf den obersten Ritualisten an der Kehle. Der Aufprall schleuderte Khrals Schultern an die Kajütentür, und er prallte davon ab, landete auf dem Boden und gab würgende Laute von sich.
Varg stand auf und ging zu dem Buch hinüber. Es hatte sich geöffnet, und einige der zarten Seiten waren stark geknickt. Varg hob es behutsam auf, strich die Seiten glatt und betrachtete die aleranische Schöpfung noch einmal. Wie Tavar, so dachte er, war es offenbar gefährlicher, als es auf den ersten Blick wirkte.
Varg stand eine Weile da und sah zu, wie Khrals Keuchen Stück für Stück zu schwerem Atmen wurde. Er hatte dem Ritualisten die Luftröhre offenbar nicht ganz zerschmettert. Das war schade, denn jetzt würde er den Narren morgen wieder ertragen müssen. Nachdem er die heutige Auseinandersetzung überlebt hatte, war es unwahrscheinlich, dass Khral Varg noch einmal eine solche Gelegenheit bieten würde, sich seiner zu entledigen.
So sei es. Irgendein ehrgeiziger Handlanger hätte aus einem toten Khral vielleicht einen Märtyrer gemacht. Es war nur zu gut möglich, dass der Ritualist tot gefährlicher wäre als lebendig.
»Nasaug«, rief Varg.
Der Welpe öffnete die Tür und musterte die auf dem Boden ausgestreckte Gestalt. »Kriegsführer?«
»Meister Khral ist bereit, auf sein Boot zurückzukehren.«
Nasaug bot ihm die Kehle dar und verbarg seine Erheiterung nicht ganz. »Sofort, Kriegsführer.« Er bückte sich, packte Khral am Knöchel und schleifte ihn einfach aus der Kajüte.
Varg ließ Nasaug ein paar Minuten Zeit, Khral zurück auf sein Boot zu bringen, und schritt dann selbst aufs Deck der Treues Blut hinaus.
Das Schiff war schwarz gestrichen, wie die meisten aus Narash. Das erleichterte das heimliche Segeln bei Nacht und zog tagsüber genug Wärme an, um die klebrige Versiegelung des Rumpfs dehnbar und wasserdicht zu halten. Die Farbe verlieh den Schiffen auch etwas Bedrohliches, vor allem in den Augen der aleranischen Dämonen. Sie waren nachts fast blind und strichen ihre eigenen Schiffe weiß, so dass sie sie im Dunkeln ein wenig besser sehen konnten. Allein die Vorstellung, ein schwarzes Schiff zu haben, war ihnen fremd, und vor der Dunkelheit empfand ihre Art eine urtümliche Furcht. Die Blindheit und Angst hielt sie zwar aufgrund der Hexerei, über die sie geboten, nicht von jeglichen Angriffen ab. Doch sie verhinderten, dass Einzelne oder kleine Gruppen den Versuch unternahmen, aus welchem Grund auch immer ein narashanisches Schiff zu entern.
Die Aleraner waren vieles, aber sie waren nicht dumm. Keinem von ihnen gefiel der Gedanke, in der Dunkelheit herumzustolpern, wenn die nachtkundigen Canim es auf sie abgesehen hatten.
Varg ging zum Bug des Schiffs und starrte hinaus aufs Meer. Sie befanden sich in Gewässern, die Hunderte von Meilen nördlich von jenen lagen, die er befahren hatte, und das Meer war bewegt. Das Wetter war klar geblieben, entweder aus schierem Glück oder dank der aleranischen Zauberei, und die Flotte hatte die lange, langsame Fahrt von Canea her ohne ernste Zwischenfälle überstanden – etwas, das Varg noch vor ein paar Monaten für so gut wie unmöglich gehalten hätte.
Die Reise von Canea nach Alera dauerte unter halbwegs günstigen Windbedingungen auf einem Segelschiff etwa einen Monat. Sie hatten über drei Monate gebraucht, um bis hierherzukommen, und bei ihrer jetzigen Geschwindigkeit lagen immer noch drei Wochen auf dem Ozean vor ihnen. Varg richtete den Blick nach Süden. Dort befand sich der Grund für ihr schleichendes Tempo.
Drei unglaublich gewaltige Schiffe fuhren in der Mitte der Flotte, ragten wie Berge aus dem Meer auf und ließen sogar die Treues Blut winzig und unbedeutend erscheinen. Aber ihre Größe war noch nicht das Bemerkenswerteste an ihnen.
Sie waren aus Eis gebaut.
Die Aleraner hatten ihre Hexenkünste benutzt, um Eisberge, die ein Gletscher gekalbt hatte, in seetüchtige Fahrzeuge
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