Das letzte Treffen
1. KAPITEL
Erster Dienstag im April
Ach du liebe Zeit!«
Die Verletzungen im Gesicht
sehen wirklich entsetzlich aus.
Das rechte Auge ist völlig
zugeschwollen. Das untere Augenlid erinnert einen am ehesten an eine Reihe
aufgesprungener Blasen. Auf Mund und Wangen sind ebenfalls deutliche
Spuren von kräftigen Fausthieben zu erkennen.
»Die Polizei hat Sigurjóna
am Wochenende blutüberströmt in die Notaufnahme gebracht«,
sagt Fanney und zeigt mir weitere Fotos. »Sie ist zunächst im
Krankenhaus versorgt worden, bevor diese Fotos gemacht wurden, um sie als
Beweismaterial zu verwenden.«
Natürlich habe ich schon
oft ähnliche Fotos von Frauen gesehen, die skrupellosen, tätlichen
Übergriffen unterbelichteter Grobiane ausgesetzt waren. Von Seiten
ihrer Männer. Oder Liebhaber.
Viel zu oft.
Aber die Fingerabdrücke
der Gewalt sind immer wieder gleich widerwärtig.
Das Frauenhaus von Reykjavik
befindet sich in einem knapp hundert Jahre alten Gebäude, das früher
mal die oberen Ver-waltungsgurus der Gaswerke beherbergt hat. Vor der Zeit
von elektrischem Licht. Lange bevor Reykjavik erwachsen wurde.
Das Haus duckt sich immer
noch unter der Seitenwand des Schwarzjacken-Stützpunktes am Hlemmur.
Da, wo die Stadtbusse ihre Endhaltestelle haben, im auseinandergebrochenen
Herzen der Stadt.
Fanney ist eine
Sozialarbeiterin weit in den Fünfzigern, die schon seit Jahren
versucht, Opfern von häuslicher Gewalt zu helfen. Frauen und Kindern,
die vor Schlägen und Tritten ihrer Nächsten aus ihrem Zuhause
geflohen sind.
»Nach all diesen Jahren
hier sollte ich längst abgehärtet sein, wenn ich die
abscheulichen Resultate dieser Übergriffe sehe«, sagt sie und
guckt mich mit müden, strahlend blauen Augen an. »Aber ich
werde jedes Mal wieder genauso betroffen und wütend.«
»Zum Glück.«
»Das ist manchmal ganz
schön schwer.«
»Was will Sigurjóna
weiter unternehmen?«, frage ich.
»Sie war bisher
gespalten, wie die meisten Frauen, die der Gewalt ihrer Männer
ausgesetzt sind, aber heute Morgen hat sie zum ersten Mal ernsthaft in
Betracht gezogen, die Scheidung einzureichen, und deshalb habe ich dich
angerufen.«
»Na, dann wollen wir
mal sehen, ob sie immer noch der gleichen Ansicht ist.«
Ich stehe auf. Langsam und
schwerfällig. Denn ich bin jetzt im siebten Monat.
Mein Bauch steht schon
richtig weit vor. Er ist wie eine quicklebendige, kugelige Behausung für
eine ständig tretende Vorwitznase, die keine Lust mehr auf ihren Gefängnisaufenthalt
zu haben scheint.
Sigurjóna ist
dreiunddreißig Jahre alt. Hausfrau. Ist seit acht Jahren
verheiratet. Hat zwei Kinder mit ihrem Mann: einen siebenjährigen
Sohn und eine fünfjährige Tochter.
Die Kinder wohnen zur Zeit
auch mit ihr im Frauenhaus.
Die Schwellungen in Sigurjónas
Gesicht sind ein wenig abgeklungen. Die blauen Flecken wurden größer.
Bunter.
Ab und zu hebt sie ihre
Finger ans Gesicht. Aber im letzten Moment hält sie sich zurück,
ihre Verletzungen zu berühren. Fährt stattdessen mit den Händen
durch ihr schwarzes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden ist.
Der Blick ihrer dunkelbraunen
Augen verrät, dass sie sich große Sorgen macht. Furcht. Angst.
Zumal sie nervös ist, während
wir miteinander sprechen. Die ganze Zeit. Fragt immer wieder nach ihren
beiden Kindern. Um sich zu vergewissern, dass sie sich noch in vertrauenswürdiger
Aufsicht befinden.
Ab und zu steht sie plötzlich
auf. Geht einen Moment durchs Zimmer. Und setzt sich genauso schnell
wieder hin.
»Wie ist das passiert?«,
frage ich.
»Ich versuche, so wenig
wie möglich daran zu denken.«
»Verständlicherweise.
Aber du musst mit uns den Tathergang durchgehen, selbst wenn das
schmerzhaft ist. Mir wäre es auch lieber, wenn ich deinen Bericht auf
Band hätte.«
Sie nickt. Aber schluckt
hart.
»Es ist in der Nacht
auf Samstag passiert«, sagt Fanney und schaltet das Diktiergerät
an.
»Am Freitagabend waren
wir zum Essen bei Freunden eingeladen, bei Kristján und Jónína
zu Hause«, sagt Sigurjöna. »Da haben wir erst Cocktails
getrunken, später Rotwein mit dem Hauptgericht und Cognac zum Kaffee.
Spätabends war Baldvin dann betrunken und laut. Er begann, mich zu
erniedrigen, das tut er immer, wenn er in Gesellschaft besoffen ist. Da
findet er, dass ich unmöglich bin und alles falsch mache. Vielleicht
mache ich
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