Coelho,Paul
und
betete die Gebete, die er als Kind gelernt hatte - das Vaterunser, das
Ave-Maria, das Glaubensbekenntnis. Sie zögerte anfangs, stimmte aber bald mit
ein.
Dann schlug er aufs Geratewohl die
Bibel auf. Das Duschwasser rann über die Seiten, aber er konnte die Geschichte
von dem Mann lesen, der Jesus gebeten hatte, seinen fallsüchtigen Sohn zu
heilen. Und Jesus sprach zu ihm: »Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.«
Der Mann entgegnete: »Ich glaube, lieber Herr - hilf meinem Unglauben.«
»Ich glaube, lieber Herr - hilf
meinem Unglauben«, rief Paulo in das Rauschen des Wassers hinein.
»Ich glaube, lieber Herr - hilf
meinem Unglauben«, wiederholte sie schluchzend.
Er begann, sich seltsam ruhig zu
fühlen. Auch wenn das entsetzliche Böse, das sie erlebt hatten, wirklich
existierte, so gab es auch das Himmelreich und mit ihm all das, was er gelernt
und ein halbes Leben lang verleugnet hatte.
»Es gibt das ewige Leben«, sagte
er, obwohl er wusste, dass sie seinen Worten nie mehr Glauben schenken würde.
»Es macht mir nichts aus zu sterben. Du solltest auch keine Angst vor dem Tod
haben.«
»Ich habe keine Angst«, antwortete
sie. »Ich habe keine Angst, aber ich finde es ungerecht. Es wäre ein Jammer.«
Sie waren 26 Jahre alt. Es wäre
wirklich ein Jammer.
»Wir haben alles erlebt, was
jemand in unserem Alter erleben kann«, entgegnete er. »Die meisten haben bei
weitem nicht so viel erlebt wie wir.«
»Das stimmt«, sagte sie. »Wir
können sterben.«
Er hob den Kopf, und das Rauschen
des Wassers in seinen Ohren war laut wie Donner. Er weinte nicht mehr, hatte
auch keine Angst mehr. Er zahlte nur den Preis für seine Kühnheit.
»Ich glaube, lieber Herr - hilf
meinem Unglauben«, sagte er noch einmal. »Wir wollen einen Tausch machen. Wir
bieten etwas für die Rettung unserer Seelen an. Wir bieten unser Leben an oder
alles, was wir haben. Nimm es an, Herr.«
Sie schaute ihn voller Verachtung
an. Den Mann, den sie so bewundert hatte, den mächtigen, den geheimnisvollen,
den mutigen Mann, den sie so bewunderte, der so viele Menschen von der
'Alternativen Gesellschaft' überzeugt hatte, der eine Welt predigte, in der
alles erlaubt war, in der die Starken die Schwachen beherrschten. Dieser Mann
stand da und weinte, rief nach seiner Mutter, betete wie ein Kind und sagte, er
hätte immer viel Mut gehabt - weil er an nichts glaubte.
Er wandte sich ab, bat sie, mit
ihm zusammen in die Höhe zu blicken und den Tausch vorzunehmen. Sie tat es. Sie
hatte ihren Mann, ihren Glauben und ihre Hoffnung verloren. Sie hatte nichts
mehr zu verlieren.
Dann drehte er den Wasserhahn zu.
Jetzt konnten sie sterben, Gott hatte ihnen vergeben.
Aus dem Wasserstrahl wurden
Tropfen, dann herrschte vollkommene Stille. Sie waren beide bis auf die Knochen
durchnässt und schauten einander an. Der Schwindel, das schwarze Loch, das
Gelächter und das Lärmen, all das war verschwunden.
P aulo hatte
seinen Kopf in Vahallas Schoß gebettet und weinte.
Sie strich ihm mit der Hand übers Haar. »Ich habe diesen Pakt geschlossen«,
sagte er unter Tränen.
»Nein«, entgegnete die Frau. »Es
war ein Tausch. Und der Tausch wurde vollzogen.«
Paulo hielt das Medaillon mit dem
Erzengel noch fester. Ja, der Tausch war vollzogen worden - und die Strafe war
in aller Härte auf dem Fuße gefolgt. Zwei Tage nach jenem Morgen im Jahr 1974
wurden er und seine Freundin von der brasilianischen politischen Polizei
festgenommen und wegen der >Alternativen Gesellschaft< der Subversion
angeklagt. Er wurde in eine dunkle Zelle gesteckt, die dem schwarzen Tunnel
ähnelte, den er in seinem Wohnzimmer gesehen hatte. Er wurde mit dem Tod
bedroht, geschlagen, aber es war ein Tausch. Als er aus dem Gefängnis kam,
brach er mit seinem Partner und wurde für lange Zeit aus der Musikwelt
verbannt. Niemand gab ihm eine Arbeit - aber es war ein Tausch.
Andere aus der Gruppe hatten
diesen Tausch nicht gemacht. Sie überlebten das >schwarze Loch< und
nannten ihn einen Feigling. Er verlor seine Freunde, seine Selbstsicherheit,
seine Lebenslust. Er hatte jahrelang Angst, auf die Straße zu gehen - der
Schwindel könnte wiederkommen, die Polizei könnte wiederkommen. Und, was noch
schlimmer war: Nach der Entlassung aus dem Gefängnis hatte er seine Freundin
nie wiedergesehen . Manchmal bereute er den Tausch -
es war besser zu sterben, als so zu leben. Aber jetzt war es zu spät für eine
Umkehr.
»Es gab einen Pakt«, ließ Vahalla nicht locker.
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