Coetzee, J. M.
Eisen wäre, würd ich bestimmt
nicht so leicht brechen«, sagte ich.
Die vier Frauen, mit denen
wir im Aufzug gestanden hatten, überquerten den Parkplatz, begleitet von einem
kleinen Mann in blauem Anzug und mit weißem Schädelkäppchen. Er öffnete ihnen
die Türen eines Wagens und fuhr sie weg.
»Hat Ihre
Tochter etwas getan, weswegen sie fortmußte?« sagte Vercueil.
»Nein, sie
hat nichts getan. Sie hat einfach genug gehabt. Sie ist weggegangen; sie ist
nicht zurückgekommen. Sie hat sich ihr eigenes Leben aufgebaut. Sie hat
geheiratet und eine Familie gegründet. Es war das beste, was sie tun konnte,
das einzige Vernünftige.«
»Aber sie
hat nicht vergessen.«
»Nein, sie
hat nicht vergessen. Aber wer bin ich, daß ich das sagen kann? Vielleicht vergißt
man doch, langsam. Ich kann’s mir nicht vorstellen, aber vielleicht kommt sowas
ja vor. Sie sagt, ›Ich bin in Afrika geboren, in Südafrika.‹ Ich habe sie
diesen Satz im Gespräch sagen hören. Für mich klingt das aber nur wie die erste
Hälfte eines Satzes. Es sollte eine zweite Hälfte geben, doch die kommt nie. Er
hängt also in der Luft wie ein verlorener Zwilling. ›Ich bin in Südafrika
geboren und werde es nie wiedersehn.‹ – ›Ich bin in Südafrika geboren und werde
eines Tages zurückkehren.‹ Welcher ist der verlorene Zwilling?«
»Sie ist
also eine Exilantin?«
»Nein, sie ist keine
Exilantin. Ich bin die Exilantin.«
Er lernte,
zu mir zu sprechen. Er lernte, mich weiterzuführen. Ich fühlte den Drang zu
unterbrechen: »Es ist so wohltuend!« wollte ich sagen. Nach langem Schweigen
ist es so wohltuend: Tränen kommen in die Augen.
»Ich weiß nicht, ob Sie
Kinder haben. Ich weiß auch nicht, ob es für einen Mann dasselbe ist. Aber wenn
man ein Kind aus seinem eigenen Leib gebiert, dann gibt man diesem Kind sein
Leben mit. Vor allem dem ersten Kind, dem Erstgeborenen. Das eigene Leben ist
nicht mehr bei einem selber, es gehört einem nicht mehr, es ist bei dem Kind.
Deswegen sterben wir nicht wirklich: wir geben unser Leben einfach weiter, das
Leben, das eine Zeitlang in uns war, und wir bleiben zurück. Ich bin bloß eine
Schale, wie Sie sehen können, die Schale, die mein Kind zurückgelassen hat. Was
mit mir geschieht, tut nichts zur Sache. Trotzdem – ich sage die Worte, ich
kann nicht erwarten, daß Sie verstehen, aber das macht nichts – es ist
beängstigend, am Rande des Abschieds zu stehen. Selbst wenn es nur die
Berührung von Fingerspitze zu Fingerspitze ist: man mag nicht loslassen.«
Florence
und ihr Sohn überquerten jetzt den Parkplatz und näherten sich uns mit schnellen
Schritten.
»Sie hätten mitgehn und bei
ihr bleiben sollen«, sagte Vercueil.
Ich
lächelte. »Ich kann’s mir nicht leisten, in Amerika zu sterben«, sagte ich.
»Niemand kann das, außer Amerikanern.«
Florence
stieg stürmisch ein, der Wagen wackelte, als sie sich auf dem Rücksitz
niederließ.
»Habt ihr
ihn gefunden?« fragte ich. Ihr Gesicht war wie ein Donnerwetter. Bheki setzte
sich neben sie.
»Und?«
sagte ich.
»Ja, wir
haben ihn gefunden. Er ist in diesem Krankenhaus«, sagte Florence.
»Und geht’s ihm gut?«
»Ja, es geht ihm gut.«
»Wie
schön«, fuhr ich sie an. »Danke für diese Mitteilung.«
Schweigend
fuhren wir los. Erst als wir zu Hause waren, machte Florence den Mund auf. »Sie
haben ihn zu den alten Männern gesteckt. Es ist zu schrecklich. Einer ist
dabei, der ist wahnsinnig, dauernd schreit er und flucht, die Schwestern trauen
sich nicht in seine Nähe. Man sollte ein Kind nicht in so einen Raum legen. Es
ist kein Krankenhaus, wo er ist, es ist ein Warteraum für die Beerdigung.«
Ein
Warteraum für die Beerdigung: die Worte gingen mir nicht aus dem Sinn. Ich
versuchte zu essen, hatte aber keinen Appetit.
Ich fand
Vercueil, wie er bei Kerzenlicht etwas mit einem Schuh machte. »Ich fahr
nochmal zum Krankenhaus«, sagte ich. »Kommen Sie mit?«
Die
Station, die Florence beschrieben hatte, befand sich am hinteren Ende des alten
Gebäudes. Man mußte durch das Kellergeschoß gehen, vorbei an den Küchen, dann
wieder hinauf.
Es war
wahr. Ein Mann mit geschorenem Schädel, dünn wie eine Harke, saß aufrecht im
Bett, schlug sich mit den Handflächen auf die Schenkel und sang mit lauter
Stimme. Ein breiter schwarzer Riemen lief um seine Mitte und unter das Bett.
Was sang er? Die Worte gehörten keiner mir bekannten Zunge an. Ich stand im
Türeingang, unfähig einzutreten, ich fürchtete, daß er, sobald
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