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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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er mich mit
seinem Blick fixiert hätte, aufhören würde zu singen, einen dieser skelettösen
schwarzen Arme heben und auf mich zeigen würde.
    »Du«, sagte
Vercueil. »Der hat das Delir.«
    »Nein, was Schlimmeres«,
flüsterte ich.
    Vercueil
nahm mich beim Ellbogen. Ich ließ mich von ihm hineinführen. Im Mittelgang des
Raumes stand ein langer Tisch mit einem Durcheinander von Tabletts darauf.
Jemand hustete feucht, so als wären seine Lungen voller Milch. »In der Ecke«,
sagte Vercueil.
    Er wußte
nicht, wer wir waren, und auch ich erkannte den Jungen nicht leicht, dessen
Blut meine Finger zusammengeklebt hatte. Sein Kopf war verbunden, das Gesicht
gequollen, der linke Arm an seiner Brust fixiert. Er trug einen hellblauen
Schlafanzug des Krankenhauses.
    »Sprich nicht«, sagte ich.
»Wir sind bloß gekommen, um uns zu vergewissern, wie es dir geht.«
    Er öffnete die
geschwollenen Lippen und schloß sie wieder.
    »Erinnerst
du dich an mich? Ich bin die Frau, für die Bhekis Mutter arbeitet. Ich hab
zugeschaut heute morgen: Ich hab alles gesehn, was passiert ist. Du mußt
schnell wieder gesund werden. Ich hab dir etwas Obst mitgebracht.« Ich legte
das Obst auf den Nachttisch: einen Apfel, eine Birne.
    Sein
Ausdruck änderte sich nicht.
    Ich mochte ihn nicht. Ich
mag in nicht. Ich schaue in mein Herz und finde keine Spur Gefühl für ihn. So
wie es Menschen gibt, für die man sich spontan erwärmt, gibt es Menschen, die
einen kalt lassen. Das ist alles. Dieser Junge ist nicht so wie Bheki. Er hat
keinen Charme. Er hat etwas Dummes, etwas absichtlich Dummes, Unzugängliches,
Verstocktes an sich. Er ist einer von diesen Jungen, die zu früh in den
Stimmbruch kommen, die mit zwölf Jahren die Kindheit hinter sich gelassen haben
und brutal geworden sind, wissend. Ein vereinfachter Mensch, vereinfacht in
jeder Weise: flinker, fixer, unermüdlicher als wirkliche Menschen, ohne Zweifel
oder Skrupel, ohne Humor, erbarmungslos, unbedarft. Als er auf der Straße lag,
als ich dachte, er würde sterben, tat ich für ihn, was ich konnte. Aber ich hätte
mich, offen gesagt, lieber für jemand anderen verwendet.
    Ich
erinnere mich an eine Katze, die ich einst pflegte, einen alten rötlichen
Kater, dem das Maul durch einen Abszeß verschlossen war. Ich holte ihn ins
Haus, als er zu schwach war, um sich dagegen zu wehren, fütterte ihn durch ein
Röhrchen mit Milch, verabreichte ihm Antibiotika. Als er wieder bei Kräften
war, ließ ich ihn frei, stellte ihm aber weiterhin draußen Futter hin. Ein Jahr
lang sah ich ihn hin und wieder in der Nachbarschaft; ein Jahr lang wurde das
Futter angenommen. Dann verschwand er für immer. Diese ganze Zeit über
behandelte er mich kompromißlos als jemand Feindlichen. Selbst als er kaum noch
Kraft hatte, war sein Körper in meiner Hand hart, gespannt, widerspenstig.
Dieser Junge, so empfand ich jetzt, war von derselben Mauer der Abwehr umgeben.
Obwohl seine Augen offen waren, sah er nicht; was ich sagte, hörte er nicht.
    Ich wandte
mich Vercueil zu. »Wollen wir gehn?« sagte ich. Und einem Impuls folgend –
nein, es war mehr: mit dem bewußten Bemühen, den sich regenden Impuls nicht zu
unterdrücken –, berührte ich die freie Hand des Jungen.
    Es war kein
Zufassen, keine lange Berührung; es war nichts als ein Streifen, kaum ein
Verweilen meiner Fingerkuppen auf seinem Handrücken. Aber ich fühlte, wie er
sich versteifte, fühlte ein ärgerliches elektrisches Zurückzucken.
    Für deine
Mutter, die nicht hier ist, sagte ich innerlich zu ihm. Laut sagte ich:
»Urteile nicht vorschnell.«
    Urteile
nicht vorschnell: Was bedeutete das? Wenn ich es nicht wußte, von wem sonst
konnte man eine Antwort erwarten? Gewiß nicht von ihm. Doch in seinem Fall, da
war ich sicher, ging das Nichtbegreifen tiefer. Im selben Moment, in dem meine
Worte geäußert wurden, fielen sie ab von ihm wie tote Blätter. Die Worte einer
Frau, also belanglos; einer alten Frau, also doppelt belanglos; vor allem aber
die einer Weißen.
    Ich, eine
Weiße. Wenn ich an die Weißen denke, was sehe ich? Ich sehe eine Herde von
Schafen (nicht eine Schar: eine Herde), die auf einer staubigen Ebene unter brennender
Sonne im Kreise treibt. Ich höre ein Trommeln von Hufen, ein
Geräuschemischmasch, das, wenn das Ohr eingestimmt ist, sich auflöst zu
demselben blökenden Ruf in tausend verschiedenen Tonlagen: »Ich!«
    »Ich!«
    »Ich!« und
zwischen sie fahrend, mit gesträubten Flanken sie beiseite stoßend, sie
fällend,

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